Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
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Zufall und Ordnung

Der Komponist Markus Wettstein und das neugegründete Ensemble realflug

Das Berliner Musikleben ist zersplittert in eine Vielzahl von „Szenen", die in aller Regel voneinander keine Notiz nehmen: Da gibt die Vertreter der „neuen Musik", Komponisten im traditionell-akademischen Sinne, die Laptop-Fraktion der Elektronik-Bastler und Party-Beschaller mit Kunstanspruch, schließlich die Anhänger der angeblich freien Improvisation. Markus Wettstein mag sich dieser Spartentrennung nicht so ohne weiteres beugen. Als er nach einer Chorleiter-Ausbildung in Luzern bei Roland Moser in Basel Komposition studierte, waren dort, was so keineswegs üblich ist, Improvisationsübungen ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung. In Berlin, wo Wettstein seit 1997 lebt und wo er auch mit Chören arbeitet und in dem elektronischen Orchester MIMEO mitwirkt, rückte die Improvisation in den Mittelpunkt seines Interesses. So beteiligte er sich am 2:13-Ensemble, das seit einigen Jahren mit Improvisationssessions an die Berliner Öffentlichkeit tritt. Mit Jazz und dergleichen hat dieses Improvisieren freilich nichts zu tun. Das 2:13-Ensemble versucht sich in einem freien Erforschen von Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten. Viele dieser Musiker waren auch jetzt wieder dabei, als Wettstein und die Sängerin Margarete Huber das Ensemble realflug ins Leben riefen. Mit anderen Leuten hätte man dieses Experiment auch kaum wagen können, ging es doch darum, die Erfahrung des Improvisierens kompositorisch fruchtbar zu machen.

Welche Anregungen sind es nun, die sich für einen Komponisten aus der improvisierten Musik ergeben? Markus Wettstein spricht von Klängen, die er sich am Schreibtisch nicht ausdenken könnte, Fundstücken gleichsam beim Experimentieren in der Gruppe; immer wieder haben ihm Proben des 2:13-Ensembles Ideen geliefert. Wettsteins neues Stück sturz still strömen, das am 22. November vergangenen Jahres zusammen mit Stücken von Maragrete Huber, Christoph Schiller und Matthias Jann von den zehn Musikern des Ensembles realflug im Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt wurde, ist nun durchaus eine Komposition im traditionellen Sinne ­ mit einer ganzen Fülle von aleatorischen Freiheiten allerdings, wie sie seit Cage und Lutoslawski in die notierte Musik eingewandert sind, mit nicht genau fixierten Tonhöhen und zeitlichen Abläufen. Er sei davon erstaunt gewesen, so Wettstein im Gespräch, wieviel man den Interpreten überlassen könne, ohne dass der Charakter der Musik sich grundlegend ändere. Dieses Vertrauen habe ihn nicht zuletzt die Erfahrung mit graphischer Notation gelehrt, speziell mit Cornelius Cardews monumentaler Treatise, die das 2:13-Ensemble 1999 aufgeführt hat. Freilich konnte der Komponist die einzelnen Parts auch direkt auf die jeweiligen Interpreten zuschneiden.

Ungewöhnlich ist die Zusammensetzung von realflug, des neuen Berliner „Komponisten-Interpreten-Ensembles": Stimme, Flöte, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Metallobjekte, Melodica, Gitarre, Klavier, Viola und Kontrabass. Erstaunlich genug, dass auch die drei anderen Komponisten des Premierenkonzerts mit dieser Besetzung etwas anzufangen wussten. Die Metallobjekte sind dabei Wettsteins eigene Domäne, seit er in einem Workshop mit Schülern in Basel den „Klang der Dinge" (E. Czurda) für sich entdeckte; mit banacht hatte er 1998 den Schrotteilen ein ganzes Stück gewidmet. In sturz still strömen figurieren sie nun, gleichsam eingemeindet, als ein Instrument unter anderen.

Sturz still strömen besteht aus zwei Abschnitten, die im Titel poetisch charakterisiert sind: Der erste Teil ist ein Patchwork aus in sich geschlossenen Abschnitten, die zunächst „tagebuchartig" und ohne System auf einzelnen Zetteln entstanden sind. Wettstein hat diese Bruchstücke dann in eine assoziative Ordnung gebracht. Strukturiert werden sie durch Pausen, deren Länge sich aus ruhigen Atemzügen der Musiker bemisst. Beim Hören entsteht der Eindruck vielfältiger Bezüge, durchaus einer gewissen Geschlossenheit. Gegen die Diskontinuitäten dieses ersten Abschnitts ist das „Strömen" des zweiten Teils gesetzt, der während der einwöchigen Probenphase noch einmal komplett umgeschrieben wurde. Den „klanglichen Individuen" wird ein „Gewebe" gegenübergestellt. Der Komponist strebt hier ein „kreisendes Zeiterlebnis" an, ihm war es um die Vermeidung jeglicher Entwicklung und Dramatik zu tun.

Markus Wettsteins intelligent zwischen Ordnung und Zufall, zwischen Stabilität und Instabilität balancierende Musik erfuhr im November durch das Ensemble realflug eine konzentrierte Wiedergabe. Auf eine solche frei-konzentrierte, ernsthaft den Klängen nachspürende Musik kommt es heute mehr denn je an, wenn man angesichts des medialen Overkills, des fröhlichen Sampelns und der technischen Überbietungsdynamik das Hören nicht verlernen, was sage ich: wieder erlernen will.

Es bleibt zu hoffen, dass das überzeugende Projekt dieses Komponisten-Interpreten-Ensembles nicht untergeht in der Flut des Berliner Veranstaltungsaktionismus, dass es bald wieder eine Gelegenheit geben wird, an dieser Klangforschung hörend teilzunehmen. Im Moment sind nur Auftritte in Basel und Freiburg geplant.

Florian Neuner

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