Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Nicht nur für Gruftis

In der Zitadelle Spandau hängen im Winter die Vampire ab

Manchmal hat sogar der Bundesumweltminister einen Grund zum Strahlen: Ein halbes Dutzend Fernsehteams empfingen Jürgen Trittin in der Kulturbrauerei und es ging nicht um den Atomausstieg, nicht um Castortransporte, und Parteiquerelen der Bündnisgrünen interessierten auch keinen. Der Minister fungiert als Schirmherr für das "Vierte Europäische Fest der Fledermäuse" am 2. und 3. September auf der Zitadelle Spandau, ein freakiger Nebenjob im Sommerloch, der den spröden Norddeutschen in humorige Stimmung versetzte: Nein, er hänge selten kopfüber unter der Decke.

Der Rummel um die mythenumwobenen Flattertiere speist sich zum einen aus einer lokalen Attraktion: In den Katakomben der Spandauer Zitadelle überwintern Jahr für Jahr über 10000 Fledermäuse. Anfang der 90er Jahre gefährdeten Renovierungsarbeiten dieses wahrscheinlich zweitgrößte europäische Winterquartier, doch nachdem Fledermausforscher die enorme ökologische Bedeutung der Gewölbe feststellten, setzte sich ein Konzept durch, das Artenschutz, Tourismus und Naturerlebnis verbinden soll.

Zum anderen hat die hohe Diplomatie das Thema "Fledermaus" entdeckt. In einem bilateralen Abkommen unter dem schmissigen Label "Eurobats" verpflichteten sich 20 Vertragsstaaten zum Schutz der fliegenden Säuger, ein Sekretariat in Bonn koordiniert die Maßnahmen. Öffentliches Echo wollen die Artenschützer mit der alljährlichen "European Bat Night" in 30 europäischen Staaten erzielen, deren Abschlussveranstaltung eben das Spandauer Fledermausfest ist, wo mit Theater, Hüpfburgen, Schautafeln und Führungen in den Katakomben die Symbiose von Tamtam und Tierschutz gelingen soll. "Die Langeweile muss raus aus dem Naturschutz", findet Martin Lehnert von der "Arbeitsgemeinschaft für Freilandbiologie", dem Veranstalter.

Dem erstaunlichen Gespinst der Fledermausinstitutionen, der Gemengelage aus Fun-Rhetorik, Event-Promotion und politischer Imagepflege lässt sich am besten durch einen Besuch in der Spandauer Zitadelle entkommen. Dort betreibt Lehnert mit anderen Biologen der Arbeitsgemeinschaft die Betreuung der Winterquartiere und der Schauräume mit den südamerikanischen Vampirfledermäusen. Für Schülergruppen steht Lern- und Bastelmaterial bereit, und bei Fledermausinvasionen in Berliner Wohnungen wie auch für Gutachten über fledermausgerechte Stadtplanung sind die Spandauer erste Anlaufstelle. Die moderierten Exkursionen im Frühsommer informieren außer über ökologische Zusammenhänge auch über den Grafen Dracul und über die Vampirlegende aus Transsylvanien, die wohl durch Berichte über Tollwutkranke entstanden ist.

Unaufgeregt und unaufdringlich (während des Winterschlafs sind die Gewölbe nicht zugänglich) wollen die Spandauer vom Naturschützer bis zum Grufti alle Bevölkerungsteile begeistern. Und wenn einem im schattigen Gewölbe zum ersten Mal eine Fledermaus über den Kopf flattert, fährt selbst kaltblütigen scheinschlag-Reportern ein gruseliger Schreck in die Glieder. Zum Glück hängt wenigstens kein Trittin unter der Decke.

Klemens Vogel

4. europäisches Fest der Fledermäuse am 2. und 3. September in der Zitadelle Spandau, 11 - 19 Uhr
Fledermausführungen bis Ende September immer Freitag und Samstag 20 Uhr in der Zitadelle Spandau, Anmeldung: fon 79 70 62 87

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