Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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In Lackschuh und Stiefel durch den Stilsumpf

Fantomas und Mr. Bungle trampeln hochmusikalisch über alle Genrebeete

Ein Schrei in der Nacht. Leises Kratzen. Ein Kätzchen maunzt. Stille. Plötzlich zerrissen von markerschütterndem Gerkreische, ohrenbetäubendem Trommelgewitter, beißendem Gitarrengemetzel. Dann dunkle Orgelklänge, melancholisch säuselnder Gesang erhebt sich über ein im Nachtschatten liegendes Villenviertel. "Amenaza al mundo", die Debut-CD von Fant™mas, klingt wie der imaginäre Soundtrack zu einem surrealen Horrorkrimistreifen. Die komplex verschachtelte Komposition von Mike Patton ist als musikalischer Comicstrip zu verstehen, unterteilt in dreißig "Seiten", wobei zu jeder Seite die Anzahl der Bilder angegeben ist.

Inhaltlich inspiriert wurde das Werk von "Fant™mas", dem maskierten Verbrecherhelden einer alten französischen Krimiserie, vor dem 1. Weltkrieg zunächst in Romanform populär, sowie den italienischen "fumetti neri", harten, ultratrashigen Sex&Crime-Comics aus den sechziger Jahren, im Booklet dokumentiert als Collage aus Comics der Zeichnergenies Magnus und Guido Crepax.

Die musikalische Welt des Sängers Mike Patton gleicht dem vielarmigen Oktopuss. Ruhm und Reichtum brachte ihm die inzwischen aufgelöste Rockband "Faith No More", deutlicher zeigt sich das Wesen seiner Ästhetik jedoch in verschiedenen, stark von John Zorn beeinflussten Projekten. Der New Yorker Komponist führte das rasend schnelle Genre-Zapping und die völlige Gleichberechtigung aller musikalischen Stile in die Avantgardemusik ein, Patton ist an mehreren seiner Werke als Musiker beteiligt und hat auf Zorns Tzadik-Label Soloplatten veröffentlicht.

Fant™mas sind mit ihrer Mischung aus Easy Listening, Metal, Grindcore und elektronischem Klangexperiment, in Hochgeschwindigkeit hintereinandergeschnitten, die legitimen Nachfolger von Zorns Extremspeed-Band "Naked City", minus Jazz. Patton singt hier keine Texte, sondern setzt die Stimme als virtuoses Instrument ein, unterstützt von Melvins-Gitarrist Buzz Osbourne, Ex-Slayer-Drummer Dave Lombardo und Jazzbassist Trevor Dunn.

Pattons Hauptband und Höhepunkt seines bisherigen Schaffens ist Mr. Bungle, deren Platten eine faszinierende Reise durch verschiedenste, immer leidenschaftlich inszenierte Klangwelten bieten. Der aktuelle Nachfolger ihres sperrigen Meisterwerks "Disco Volante", "California" ist infolge starker Beach Boys-Inspirationen wesentlich poppiger geraten dabei aber nicht weniger kompromislos im musikalischen Anspruch. Noch immer findet sich die Zorn´sche Kompositionsmethode des musikalischen Wechselbades, eingesetzt von einer auch an den Grenzen des spieltechnisch Machbaren mit höchster Präzision agierenden Band. Dem Hörer obliegt es, aus diesen zerklüfteten Gebilden aus "Wohlklang" und "Lärm" das zu machen, was sie sind: Ein visionäres musikalisches Ganzes.

Kai Pfeiffer

Fantômas: amenaza al mundo, CD, Ipecac Recordings
Mr. Bungle: California, CD, Ipecac Recordings

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  Ausgabe 08 - 2000