Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Ein Querschnitt durch das Lebenswerk von Gerhard Rühm

Gemessen an seiner Vielseitigkeit, seiner grenzüberschreitenden Innovationskraft, ja schlicht seiner literarischen Bedeutung müsste Gerhard Rühm eigentlich wesentlich bekannter sein als seine "Kollegen" Günter Grass, Christa Wolf, Thomas Bernhard oder wie sie alle heißen. Daß er es dennoch nicht ist, liegt an den genannten Charakteristika. Der 1930 in Wien geborene Rühm ist in allen Künsten zu Hause. Er hat eine profunde musikalische Ausbildung erhalten, in Hamburg war er lange Jahre Professor an der Hochschule für bildende Künste. Ausgangspunkt für seine grenzüberschreitenden Experimente, die dann zu "auditiven Texten", zu "Sprech-" und "Sehtexten" oder "visueller Musik" führten, war aber immer die Literatur, oder besser: die "Dichtung", jener Teil der Literatur, "wo mit sprache nach künstlerischen gesichtspunkten (...) verfahren wird."

In den fünfziger Jahren war Gerhard Rühm Mitstreiter in der legendären "Wiener Gruppe". Eine größere Aufmerksamkeit wurde den Herren Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener aber erst zuteil, als Rühm 1967 die Anthologie Die Wiener Gruppe im Rowohlt Verlag herausgab. Damals existierte die Gruppe schon längst nicht mehr, Konrad Bayer war tot und Rühm lebte im Westberliner Exil. Erst hier konnte er ungehindert publizieren.

Trotz zeitweiligen Engagements des Rowohlt Verlags sind viele der Arbeiten Gerhard Rühms heute vergriffen, in kleinen Editionen oder in Zeitschriften verstreut, und die Unternehmensberater, die heute im Hause Rowohlt das Sagen haben, werden von einem Autor wie Rühm gewiss abraten. So ist es doppelt erfreulich, daß Jörg Drews jetzt im Reclam Verlag eine preiswerte Anthologie mit Texten aus den Jahren 1954 bis 1997 herausgegeben hat. Das Bändchen bietet auf 200 Seiten einen guten Überblick über Rühms vielseitiges Schaffen. Es finden sich Montagetexte, Textbilder, Chansons, "Konstellationen und Ideogramme", "dokumentarische sonnette", eine Auswahl aus den in synthetischem Wienerisch verfassten Dialektgedichten, auch "kleine" Theaterstücke wie atmen von 1965: "von rund 2,7 milliarden menschen atmet jeder so lange er kann."

Viele der Nachkriegsavantgardisten sind heute in ihrem innovatorischen Anspruch eingeknickt, resigniert, angepasst oder verblödet, haben wie Wiener oder Achleitner das literarische Schreiben ganz aufgegeben. Gerhard Rühm dagegen nicht.

Florian Neuner

Gerhard Rühm: um zwölf uhr ist es sommer. Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa (Auswahl und Nachwort von Jörg Drews). Reclam Verlag, Stuttgart 2000, 10 DM

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