Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Literaturexpress im Regionalbahnhof

Im Sommer war eine Menge los in Sachen Literatur

Der 14. Juli 2000, Bahnhof Friedrichstraße; die Uhren waren auf 18:39 gesprungen; der Bahnsteig übersäht mit Vertretern und Vertreterinnen aus Funk und Fernsehen, Springer, Print und Internet. Die Welt, die Deutsche Welle, dpa, die FAZ, WDR 5, der scheinschlag, Bayern 4, die amerikanische Botschaft: Alle waren sie gekommen, um den ersten internationalen Literaturexpress seit Erfindung der Eisenbahn vor gut 180 Jahren und der Schrift vor 5000 Jahren, tja: nun - zu bewillkommnen.

An den Wänden und Zugängen des Bahnhofs im corporate design Spruchbänder, auf denen Sätze stehen wie culture will play a crucial role in the integration of the new European identity. Die Schlüsselrolle integrierter Identität. Sprechblasen gesamteuropäischer Tendenz. Der Kulturstaatsminister gibt bekannt: Eine bisher einmalige Reise quer durch Europa geht heute zu Ende und bringt Künstler mit geballter literarischer Fracht nach Berlin.

Versandung im Dickicht der Metapher.

Eine Bühne in der Bahnhofspassage, Gaukler, Dichter und Performer geben einen bunten Reigen; Animationen, Lärm, fraglose Gesichter, Beifall. Ein Moderator brüllt ins Mikro. Gedichttafeln werden enthüllt, kleine Rollen kostenlos verteilt. Laurynas Katkus: Brief Huhu! Windstoß riss die Türe auf/ Ach, das Auto, im Schnee// ... Hier! Ich bin hier, eingerollt ins/ Klebebaendchen/ gekreuzigt auf Harmonika/ hier ich atme, bleib weg.//

Man muss wahrscheinlich kein Litauisch koennen, um zu wissen, dass diese Zeilenfolge kaum zum Gedicht, geschweige einem guten, taugte.

Ein Programm der Staatskunst.

Der Tross zog weiter gen Osten, ins Berliner Ensemble. Ein paar Meter nur und man war mitten im Sektempfang. Zahllos die Geladenen. Der Ton fiel aus. Psssssssst. Leiser ging nicht. Pressemappen am Empfang. Zwei Stimmen stemmten sich mit Schwitters ansonsten erfolglos gegen den Lärm der Absprachen. Interviews. Händeschütteln. Ach, sieh´ an. Na schönen Abend noch.

Jedenfalls war im Juli eine Menge los in Sachen Literatur. So gab es in der 28. Kalenderwoche noch den Beginn einer Aktion , die in jeder Hinsicht ihres gleichen sucht. Allein graphisch und typographisch ist der Berliner Standard wo nicht unterlaufen, so unterrannt. Literaturhäuser bringen Poesie in die Stadt. Präsentiert von inforadio.

In vollständiger Verkennung der Dimension eines Schriftstückes werden hier Großflächenplakate mit Texten versehen, die gewiss nie dazu bestimmt waren, an G-Wert relevanten Orten zu hängen. - Mit dem G-Wert bezeichnet die Werbeerfolgskontrolle jene Größe, die angibt, wieviele Passanten pro Stunde sich an ein Werbeplakat erinnern können. Und so sind Endler, Enzensberger, Jandl, Waterhouse und andere also nunmehr 48 G ausgesetzt. Einer bemerkenswert poetischen Geschwindigkeit.

i g wilms

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  Ausgabe 08 - 2000