Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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Wie sieht er denn aus, der Hauptstädter? Alltagsberliner vor weißem Hintergrund - eine Fotoausstellung in der Brotfabrik

"Genauso spannend wie das Fotografieren selbst ist das Ansprechen", stellten Mirko Zander und Matthias Nichelmann fest. "Nicht zu forsch und nicht zu devot durfte es klingen." Mit der Zeit aber stimmte der Ton und die Leute, die sie auf den Bürgersteigen in Berlin antrafen, ließen sich überzeugen und stellten sich vor das weiße Tuch, das an einer Hausmauer aufgespannt war. Gerade so, wie sie unterwegs waren, mit oder ohne Taschen, allein oder zu zweit, mit ihren Kindern oder Hunden, wurde dann sofort ein Porträt von ihnen gemacht. Insgesamt über sechshundertmal drückten die beiden Fotografen auf den Auslöser und hielten im Verlauf der Jahre 1997 bis 1999 einen ungestellten Alltag Berlins fest. Die Porträtierten zupften sich vorher vielleicht noch mal die Jacke zurecht und strichen sich kurz durch die Haare, doch kaum einer verfiel in selbstdarstellerische Posen. Nach einigen Minuten traten sie wieder aus dem weißen Hintergrund heraus und setzten ihren Weg fort.

Eine Auswahl von zweihundert Abzügen aus dieser ungewöhnlich umfangreichen Porträtserie ist jetzt in der Brotfabrik zu sehen: Der Müllmann, der unter Zeitdruck steht, weil er weiterarbeiten muss, und schon ungeduldig die Hände hebt; die Hausfrau, die mit ihren Hund spazieren geht; die Bauarbeiter, die, noch in Arbeitskleidung, schon auf dem Heimweg sind; der selbstbewusste kleine Junge, der forsch eine Hand in die Seite stemmt und äußerst konzentriert in die Kamera blickt, der Makler, der gelassen und geschmeichelt den beiden Fotografen einen Gefallen tut. Allen diesen Porträtierten könnte man irgendwo schon begegnet sein, unwillkürlich erwartet man, auf dem nächsten Bild ein bekanntes Gesicht zu sehen. Der nachhaltigste Eindruck entwickelt sich jedoch aus der Gesamtschau aller Bilder: Sie vermitteln die Erfahrung einer äußerst konzentrierten Ruhe. Die Porträtierten geben sich zum Anblick frei, während man im Alltag, wenn sie im Supermarkt an einem vorbeihasten oder über die Straße eilen, sie kaum zur Kenntnis nehmen könnte. Und vielleicht auch gar nicht wollte, wie jenen Mann, der sich nur mühsam mit seinen Krücken aufrecht halten kann.

Nicht ohne Absicht haben die beiden Fotografen in allen Berliner Bezirken - im Grunewald wie im Wedding - an zuvor sorgfältig ausgewählten Orten ihre Plattenkamera aufgebaut. Sie wollten systematisch herausfinden, wie er aussieht, der Hauptstädter. Neben dem in der Öffentlichkeit propagierten Bild einer jungdynamischen neuen Mitte, den geschönten Wunschvorstellungen, die in Berlin zur Zeit am laufenden Band produziert werden, um von welchem Fluch auch immer Erlösung zu erlangen, sollte es ein umfassenderes Bild werden. Einen vollständigen Querschnitt durch die Hauptstadtbevölkerung konnte es dennoch nicht geben. Bestimmte Gruppen tauchen gar nicht mehr im Straßenbild auf, sondern fahren aus der eigenen Garage direkt in die Tiefgarage am Arbeitsplatz. Diejenigen aber, die jetzt in der Porträtserie festgehalten sind, blicken so gelassen und souverän den Betrachter an, dass sie ohne große Mühe auch die Fehlenden in ihrer Mitte aufnehmen können. Die Fotografen haben den Alltagspassanten ein selbstbewusstes Abbild ihrer selbst gegeben.
sas

Mirko Zander und Matthias Nichelmann: frontale - Berliner Bildnisse. Brotfabrik Berlin Weißensee, Prenzlauer Promenade 3, fon 471 40 01. Eröffnung 2. Juni, 20 Uhr, Musik: Duo Schmidt und Mauss, Ausstellung vom 3. Juni bis 2. Juli, Mi-So 16-21 Uhr

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