Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
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Salamitaktik im Wedding

Wie die Müllerstraße doch noch zu ihren Fahrradbügeln kam

Wie sagte doch der Fahrradfahrer auf der vielbefahrenen Straße: "Muß man halt mitten auf der Fahrspur fahren, um Platz zu haben." Starke Nerven hat der Mann, denn hinter einem drängeln die Lastwagen und Busse, scheren dann zum Überholen auf die zweite Spur aus, um drohend donnernd bis zum nächsten Ampelstopp davonzuziehen. Dort beginnt die Prozedur von neuem - wenn man nicht sowieso vom parkenden Lieferverkehr in zweiter Reihe gestoppt wird. Die durchgehende Betonabtrennung zwischen beiden Fahrtrichtungen in der Mitte der Straße macht auch dem Gutmütigsten klar, wessen Geist die Magistrale gehorcht. Der Verkehrsexperte dazu nüchtern: "Da die Fahrspuren auf der Müllerstraße enger sind als normal, ist eine extra Fahrradspur nicht möglich. Eine Verlegung auf den engen Bürgersteig scheidet ebenfalls aus." Recht hat er, dort schieben sich die Fußgänger. Und eine Busspur, die auch den Fahrradfahrern nützt, wird erst ab einer bestimmten Busfrequenz eingerichtet. Und das auch nur vielleicht und eventuell. Was also tun? Auto kaufen und mithalten?

Radeln im Unterbewussten

Fast verwegen erscheint es da, für die Müllerstraße im Wedding ein sogenanntes "Veloparking" einzurichten. Diese klingende Wortschöpfung meint rück-übersetzt, diebstahlsichere Abstellplätze für Fahrräder einzurichten. Also diese praktischen Bügel aufstellen, die die Suche nach dem freien Laternenpfahl, um den dann auch noch das Schloss passt, überflüssig macht. Jahrelang hatte es sich in den Hinterkopf eingraben können: Das Rad wird selbst beim Abstellen zum Problem! Deswegen ist es für den Radler nun ein äußerst erhebendes Gefühl, wenn er diese Bügel auf der Müllerstraße vermehrt entdeckt. Irgendwo im Bezirk muss jemand ein Herz für ihn entdeckt haben, programmiert der Radler das Unterbewusstsein um.

Das Projekt "Veloparking" wird realisiert als eines der Ergebnisse der sogenannten "Zukunftskonferenz Müllerstraße", die sich um die Attraktivitätsteigerung der Einkaufsmeile kümmert. Umfragen Anfang 1999 unter den "Müllerstraßen-Nutzern" hatten gezeigt, dass rund ein Drittel der Befragten mit der Verkehrssituation unzufrieden war. Vor allem der starke Verkehr war vielen ein Dorn im Auge. Die Geschäftsleute widerum wollten für ihre Kunden mehr Parkplätze, die zuvor teilweise durch den Bau der Straßenbahn längs der Seestraße weggefallen waren.

Hundert Mal Überzeugungsarbeit

Jetzt versucht man, die sich im Grunde widersprechende Wünsche unter einen Hut zu bringen. Weitere Parkmöglichkeiten werden durch den Bau eines Parkhauses und in einem zukünftigen kleinen Einkaufszentrum geschaffen. Dagegen nehmen sich die vorgesehenen einhundert Bügel des Veloparking auf den ersten Blick bescheiden aus. Doch 76 Stück davon sind inzwischen aufgestellt und Wolfgang Augustin, der Koordinator von "Veloparking", geht davon aus, dass die restlichen Anlagen in den nächsten Wochen dazu kommen.

Der eigentliche Erfolg liegt jedoch in der Überzeugungsarbeit, die geleistet wurde. Da die Bügel nicht voll finanziert sind, mussten die Geschäfte als Kooperationspartner gewonnen werden, sich an den Kosten zu beteiligen. Deren anfängliche Reserviertheit gegenüber den Bügeln erklärt sich aus den jahrelang angestauten Problemen der Müllerstraße. Die meisten schätzten andere Probleme wie eben fehlende Parkplätze oder den generellen Kaufkraftverlust als dringlicher ein. Zumal die Geschäfte in den letzten Jahren schon für die Aufstellung von diversen Blumenkübeln zur Kasse gebeten wurden. Der Fleischer gegenüber von Karstadt bildete da die rühmliche Ausnahme. Er hatte schon vorab zwei Bügel auf eigene Kosten installiert.

Wie schwierig sich eine Realisierung selbst solch kleinteiliger Maßnahmen gestalten kann, wird deutlich, wenn selbst C&A vier Bügeln, also acht Stellplätzen, nicht freudestrahlend sofort zustimmte. Wolfgang Augustin wertet deshalb jeden Einzelnen der aufgestellten Bügel als Erfolg.

Vielleicht ein Radhaus

Dass allein die 100 Fahrradbügel nicht unmittelbar zum Aufschwung der Müllerstraße führen werden, dürfte jedem klar sein. Sie sagen stattdessen aber etwas über die sich wandelnde Atmosphäre auf der Straße aus. Nicht zuletzt ging es in der Zukunftskonferenz darum, die Attraktivität der Straße zu erhöhen. Dass man die Verkehrsteilnehmer nicht mehr gegeneinander ausspielt, ist erfreulich - zumal man in den Wohngebieten rund um die Müllerstraße als Fahrradfahrer relativ gut vorankommt.

Das Projekt "Veloparking" wird mit den hundert Bügeln jedoch nicht arbeitslos, sondern erörtert zur Zeit die Errichtung einer so genannten Fahrradstation. Die unterschiedlichsten Leistungen rund ums Fahrrad sollen an einem Ort gebündelt zur Verfügung gestellt werden, von der Reparatur über Mietfahrräder bis hin zu Kurierdiensten. Mögliche Standorte und Investoren bzw. Betreiber werden diskutiert. Eine Realisierung ist für 2001 ins Auge gefasst.

Für die Zukunft ist es nicht ganz ausgeschlossen, die unscheinbaren Bügel als Vorboten eines fahrradfreundlichen Bezirks deuten zu können. Der Radfahrer hat bestimmt nichts dagegen, noch mehrmals seinen Hinterkopf umzuprogrammieren.
sas

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