Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
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Schmale Holperradwege brauchen keine Schilder!

Einzelkämpfer klagt gegen Radwegebenutzungspflicht

Seit dem 1. Oktober 1998 müssen Radwege, die bestimmte Mindestanforderungen nicht erfüllen, nicht mehr benutzt werden. Wenn ein Radweg nicht 1,50 Meter breit ist, sich in Schlangenlinie um Hindernisse windet oder voller Schlaglöcher ist, dürfen Radfahrer die Straße benutzen. Es sei denn, es steht dort ein blaues Radweg-Schild - dadurch gilt die Benutzungspflicht trotz fehlender Standards. Die Berliner Verkehrsverwaltung machte davon reichlich Gebrauch. Nur die wenigsten Radwege wären ohne Schilder noch benutzungspflichtig, vor allem, weil sie in der Regel mit 1,20 Meter zu schmal sind. An Hauptverkehrsstraßen wurde der Schilderwald nochmal kräftig aufgeforstet. Von den Vorteilen, die die Änderung der Straßenverkehrsordnung von 1998 (die so genannte Fahrrad-Novelle) für den Radverkehr bringen sollte, haben die Berliner Radfahrer deshalb herzlich wenig.

Philip Jacobs aus Prenzlauer Berg ärgert sich darüber so sehr, dass er nun beim Verwaltungsgericht Klage gegen den Benutzungszwang schlechter und gefährlicher Radwege eingelegt hat. Er hat sich einige wenige Radwege ausgesucht, die alle nicht breiter als einen Meter sind, eine uneinsehbare Linienführung haben, teils extrem holprig sind und trotzdem als benutzungspflichtig ausgeschildert sind, nämlich auf dem Mehringdamm zwischen Platz der Luftbrücke und der Kreuzung Yorckstraße/Gneisenaustraße, an der Straße Alt-Moabit und an der Perleberger Straße.

"Keine relevanten Probleme"

Ende 1998 hatte Jacobs zunächst Widerspruch bei der Straßenverkehrsbehörde gegen die Benutzungspflicht dieser Radwege eingereicht. Das Befahren des Mehringdamms bezeichnete er darin als lebensgefährlich. Bergab können Radfahrer eine relativ hohe Geschwindigkeit erreichen und werden durch Hindernisse gefährdet. "An der Kreuzung zur Gneisenaustraße besteht eine außerordentlich Gefährdung durch Rechtsabbieger; die Sichtbeziehungen sind hier durch Bepflanzungen besonders mangelhaft", schreibt er, nicht ohne einen einfachen Lösungsvorschlag zu machen: Der jetzige Radweg solle gesperrt und zum Schrägparken freigegeben werden. Die derzeitige Parkspur solle im Gegenzug zum Fahrradstreifen umgewidmet werden.

Die Straßenverkehrsbehörde zeigte sich von diesem Vorschlag nicht sonderlich begeistert und wies auch den Widerspruch als unbegründet zurück. Zwar treffe es zu, "dass nicht alle gekennzeichneten Radwege in Berlin den Anforderungen an die lichte Breite genügen", jedoch wird darauf hingewiesen, dass für die betreffenden Radwege schon vor dem 1. Oktober 1998 eine Benutzungspflicht bestand, "ohne dass sich hieraus relevante Probleme ergeben hätten". Die vielen und häufig schweren Unfälle zwischen rechtsabbiegenden Autos und geradeauswollenden Radfahrern sind demnach keine "relevanten Probleme". Mit dieser Argumentation hätte man sich die Änderung der Straßenverkehrsordnung gleich sparen können.

Leistungsfähigkeit wichtiger als Sicherheit

In der Straße Alt-Moabit und in der Perleberger Straße konnte die Polizei bei einem Ortstermin keine gefährlich Verkehrsführung der Radwege feststellen. Die Senatsverkehrsverwaltung riet Ja-cobs zu einer "angemessenen Geschwindigkeit", um Gefahren auszuschließen. Die Aufrechterhaltung der Benutzungspflicht am Mehringdamm begründete sie mit dem hohen Verkehrsaufkommen und einem befürchtetem Leistungsverlust für den Kfz-Verkehr. Die Grünphasen an der Kreuzung Mehringdamm/Yorck-/Gneisenaustraße müssten verkürzt werden, wenn Radfahrer die Fahrbahn benutzen würden. Die Folge wären Staus sowie eine erhöhte Lärm- und Abgasbelästigung, schreibt die Verkehrsverwaltung. Eine besondere Gefährdung gehe für Radfahrer auf der Straße vom vielen Lieferverkehr auf dem Mehringdamm aus. Die häufig in zweiter Reihe haltenden oder parkenden Lkw würden Radfahrer "zu gefahrvollen Fahrstreifenwechsel zwingen", heißt es weiter in der Antwort auf den Widerspruch. Dass das Halten in zweiter Reihe illegal ist und womöglich die "Leistungfähigkeit" des Mehringdamms stärker mindern könnte als Radfahrer, stört die Argumentation der Senatsverkehrsverwaltung hingegen nicht. Schließlich merkt sie an, dass der Mehringdamm für die Markierung eines Radfahrstreifens "infolge zahlreicher Ein- und Ausparkvorgänge, die zu permanenten Behinderungen der Radfahrer führen würden," nicht geeignet sei.

Missachtung der Radfahrer

"Mein Widerspruch ist nicht widerlegt", meint Philip Jacobs. Konflikte mit ein- und ausparkenden Autos sowie mit be- und entladenden Lieferfahrzeugen gibt es auf dem Radweg genauso häufig. Die Aufforderung, an Gefahrenstellen im Schritttempo zu fahren, betrachtet Jacobs als Missachtung des Interesses radfahrender Menschen an einem zügigen und sicheren Fortkommen. Der Absicht der Fahrrad-Novelle, dem Radfahrer die Möglichkeit zu geben, sich eigenverantwortlich für die Fahrbahn zu entscheiden, wenn er ein erhöhtes Risiko auf dem Radweg erkennt, wird in Berlin nicht entsprochen. Deshalb legte Jacobs Klage gegen die Verwaltungsvorschrift ein, mit der die Senatsverkehrsverwaltung die Benutzungspflicht rechtfertigt.

Bis es zur Verhandlung kommt, kann es noch drei Jahre dauern. Philip Jacobs rechnet damit, dass der Prozess 2500 Mark kosten wird, und sucht noch Spender. Der ADFC hält sich mit seiner Unterstützung zurück. Offenbar hofft der Radfahrerverein nach dem Wechsel des Verkehrsressorts zur SPD auf Tauwetter und will zunächst die berechtigten Hoffnungen auf eine fahrradfreundlichere Verkehrspolitik nicht durch allzu konfrontatives Auftreten gefährden.
Jens Sethmann

Spender und sonstige Unterstützer bitte bei Philip Jacobs melden: fon 442 14 86, mail: philip@oekostadt-online.de

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