Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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"La Moderna Poesia"

Birgit Heins kubanisches Reisetagebuch

An einem Strassenstand in Havanna flattert Che Guevara auf T-Shirts gedruckt neben Leonardo di Caprio im kubanischen Urlaubsinselwind. Letzterer wird in der nächsten Saison durch einen neuen Mädchenherzensbrecher ersetzt werden. Der Mann mit dem roten Stern an der Mütze ist spätestens seit seinem Tod zur unsterblichen Verkörperung der real imaginären grossen Revolution verdammt. "Immer bis zum Sieg" fordert der Commandante auf riesigen Tafeln am Autobahnrand der letzten Insel des Sozialismus.

Das Volk spart Dollars für Nike-Schuhe und isst Brot auf Bezugsschein. Im Revolutionsmuseum huscht eine Eidechse durch die verstaubten Reliquien des bewaffneten Kampfs für eine bessere Welt. Wächserne Schweisstropfen perlen am stolz erhobenen Haupt des überlebensgrossen Guerilleros herab.

Ein Huhn legt sein Ei auf das einzige Bett in einer mit bunter Farbe wohnlich gemachten Wellblechhütte. Die Bewohner sitzen lachend und trinkend auf dem Fussboden, in der Ecke eine Madonnenstatue. Im Fernseher begrüsst Fidel Castro den Papst. Auf einem Wandteppich im Souvenirladen sieht Guevara aus wie Jesus Christus.

In den 70er Jahren ließ Wim Wenders seine Protagonisten auf der Suche nach einer Heimat und sich selbst durch Westdeutschland irren. Birgit Hein und ihr damaliger Mann Wilhelm verstörten und begeisterten zur gleichen Zeit mit Experimentalfilmen das studentenbewegte Publikum. 30 Jahre später wiegt sich die neue deutsche Mitte Caipirinha schlürfend zu den Klängen des "Buena Vista Social Club". Birgit Hein zeigt in ihrem auf Video gedrehten Reisetagebuch den Alltag eines Landes, das sich mit dem Sozialismus arrangiert hat und seine Sehnsucht im Museum konserviert. Dabei versagt sie sich jede Sentimentalität und verlässt sich auf die für sich sprechende Realität zwischen Touristennepp und Überwachungskameras.

Aber manchmal guckt einem Che Guevara von irgendeinem Plakat genau in die Augen, und dann glaubt man einen Moment lang, dass das, was nicht ist, vielleicht doch möglich ist.
go

"La Moderna Poesia" 20. bis 26. 4., 19 Uhr im Kino in der Brotfabrik

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  Ausgabe 04 - 2000