Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Ausparken und Verwirren

Romantikfuzzis, Baracke-Light oder Off-Theater? Stefan Otteni, der neue Spielleiter der DT-Kammerspiele, will den Klischees einfach davonfahren

Der Job als Jung-Intendant am Deutschen Theater bringt einen gewissen Luxus mit sich, etwa den exklusiven Intendantenparkplatz. Nachteil: Nachts wird der Hof geschlossen, weswegen Stefan Otteni dann "doch noch mal nachgucken" will, ob sein Auto draußen steht, bevor er zum mitternächtlichen scheinschlag-Interview schreitet.

An Komfort mangelt es auch sonst nicht: Seit Otteni und Martin Baucks Ende letzten Jahres die DT-Kammer übernommen haben, bespielen sie ein frisch renoviertes Haus mit variablen Bühnenflächen, können auf das renommierte Ensemble des DT zurückgreifen und das alles auf historischem Terrain: Der legendäre Max Reinhardt gründete die Kammer 1906, um eine intime Spielstätte für die psychologischen Stücke der Strindbergs und Ibsens zu schaffen. Nun sitzen hier die beiden Essener Folkwang-Absolventen am Steuer, Quasi-Nachfolger von Ostermeier und der DT-Baracke.

Ihr Auftakt gestaltete sich als flotte Spritztour durch die europäische Kulturgeschichte: Von der Renaissance, die das Hirtenspiel "Aminta" von Torquato Tasso beisteuert, über die klassische Moderne (Musil, "Die Schwärmer"), bis zur Gegenwartsdramatik der Mazedonierin Biljana Srbljanovic ("Familiengeschichten. Belgrad") und Martin Baucks´ "Hasenfratz" reicht die Spanne. Im April angelaufen ist BAL-TRAP von Xavier Durringer, ein Beziehungsspiel im Kammer-Foyer. Das Foyer wurde auch für das ambitionierte Projekt "der Spiegel" genutzt, eine wöchentliche theatrale Umsetzung der Magazin-Texte. Doch die jungen Theatermacher bremsten die quirlige Idee wieder ab, die wöchentliche Heavy-Rotation des Mediums erwies sich als zu starres Korsett für die Bühne.

Nichtsdestotrotz: Als Beifahrer am Dauerparkplatz für verstaubte Klassiker, dem Deutschen Theater, will Otteni in Zukunft ordentlich Gas geben. "Wir wollen uns nicht festlegen lassen, und haben dafür eins draufgekriegt. Romantikheinis, Baracke-light oder Off-Theater, hieß es. Wir werden in Zukunft Stoffe machen, die noch selbstbewusster diese Linie vertreten."

scheinschlag: Die Auftaktstücke der DT-Kammer durchzieht eine spezifische Idee von menschlicher Gemeinschaft. Ob bei Musils Schwärmern, wo du selbst Regie geführt hast, bei Aminta oder auch in Hasenfratz: Der gemeinsame Fluchtpunkt ist ein normativer Appell, es geht um die "ungeschriebenen Gesetze" des Zusammenlebens. Ist das dein Thema?
Otteni: Ich habe etwas gegen Theater, das immer nur Gesellschaft abbildet, wie sie nicht funktioniert. Mein großer Impuls bei den "Schwärmern" war, dass dort Leute um eine Art des Umgangs ringen, die größte Widersprüche vereint. Trotz der Konflikte gibt es einen starken Appell, gut miteinander umzugehen. An dieser Aufgabe arbeite ich ja auch mit Martin Baucks hier im Ensemble. Wie sollen wir miteinander umgehen? Gerade im Theater gibt es eine unheimliche Verrohung der Sitten. Das gilt für alle Orte von Gemeinschaft, wie ich sie wahrnehme.

Das Einklagen von Sitten und Normen ist ja eine Spezialität der Konservativen. Kürzlich ließ sich Joachim Fest in der FAZ seitenlang über die "ungeschrieben Normen" aus. Irritiert dich diese "Koalition im Geiste" nicht?
Nein, denn die Figuren, die ich liebe - den Aminta, den Hasenfratz, Thomas, Regine und Anselm aus den Schwärmern - die sind nach konservativen Regeln totale Außenseiter. Also, eine Frau wie Regine, die mit einem Toten verkehrt aber mit 50 Männern fickt und ihr Schwager sagt: Lass sie, bei ihr sitzt eben etwas locker, was bei anderen fest ist - das ist nicht konservativ. Bei der Arbeit an den "Schwärmern" haben wir eine große inhaltliche Gemeinsamkeit zum Dogma-Film "Idioten" festgestellt. Dort herrscht auch ein sehr strenger Umgang, und nach außen sind sie gebrandmarkt.

Dich faszinieren bizarre Außenseiter, Menschen die sich gegen ihr Schicksal auflehnen?
Sicher. Leute die sich rauskatapultieren, bewusst oder unbewusst. Das ist eines der Themen dieser Spielzeit: Einzelfiguren die sich auflehnen gegen das, was ihnen gesellschaftlich vorgegeben ist. Auch in Einar Schleefs "Totentrompeten" und in "Ajas" von Sophokles - beide Stücke wollen wir demnächst machen - geht es um solche Menschen.

Welche sind deine Favoriten unter den Dramatikern?
Ganz toll finde ich Howard Baker, der in Deutschland kaum bekannt ist, und der ganz exemplarisch das Prinzip der Verwirrung durchführt. Er sagt, er sei einer der letzten kommunistischen Autoren, aber er verschleiert seine Ideologie, er misstraut ihr sogar. In seinen Stücken zieht er den Leuten systematisch den moralischen Boden unter den Füßen weg, er konstruiert Situationen, wo du mit allen konventionellen Verhaltensmustern nur auf den Arsch fallen kannst - wunderbar. Ich denke, Theater ist dazu da, um zu verwirren.

Kann man aus der radikalen Liebe zu Widersprüchen und Ambivalenzen noch eine politische Haltung gewinnen? Irgendwann muss man sich ja auch entscheiden...
Das ist dann der zweite Schritt. Politik entsteht für mich in erster Linie aus einer Öffnung, aus einer Liebe zum Widerspruch. Ich beobachte zum Beispiel, dass es in meiner Generation nur ganz wenige Leute gibt, die sich noch für etwas die Köpfe einschlagen. Da gehen zwei ins Kino und der eine sagt: "Irgendwie fand ich den Film doof". Der andere: "Ich nicht." Und Ende der Diskussion. Eine wahre Auseinandersetzung jenseits von Geschmack findet nicht mehr statt. Dieses pseudo-pluralistische Alles-Gelten-Lassen ist nicht das, was ich meine. Allerdings erwächst für mich das Politische immer aus dem Persönlichen. Erst seit in meiner Familie ein nepalesischer Junge gelebt hat, habe ich mich für Nepal interessiert und das Ausmaß der feudalistischen Unterdrückung dort wahrgenommen.

Woher schöpfst du deine Kreativität, die Lust zum Weitermachen?
Ich glaube, aus anderen Menschen. Bei schweren Situationen, auch hier am DT, ist es der Gedanke an die Leute, der mich hält. Leute, von denen ich weiß, die können auf der Bühne einen Moment schaffen, wo alle den Atem anhalten. So einer ist etwa Roman S. Pauls, der den Aminta und den Hasenfratz spielt. Roman ist so großzügig mit seinen Gefühlen, man muss einfach dafür sorgen, dass der einen Raum kriegt, in dem er zu Leuten sprechen kann.

Raum gegeben habt ihr auf eurem Spielplan auch dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Die allwöchentliche Inszenierung der aktuellen Ausgabe klang nach einer unkonventionellen Idee. Jetzt habt ihr das Projekt allerdings erstmal abgesetzt.
Wir haben ein Format gesucht, mit dem man das Gediegene von Theater unterlaufen kann, ein Forum, das auch tagespolitische Statements erlaubt, wenn wir das wollen. Ich denke schon, dass das Theater aus den Texten des Spiegel einen Mehrwert herausholen kann. Denn der Spiegel ist ja in einem Umfeld der Pseudo-Information geschrieben. Was dort zählt, sind Aktualität, Radikalität und Sensationswert. Inzwischen haben wir aber bei der ersten Testreihe gemerkt, dass ein wöchentlicher Rhythmus des Abends uns alle überfordert. Wir sind dann noch aktuell, aber nicht mehr so gut, wie wir sein könnten. Deshalb haben wir uns entschlossen, das Projekt auf einer monatlichen Basis fortzuführen. Ob es dann noch "Spiegel" heißt, weiß ich nicht.

Welches Menschenbild vermittelt deiner Ansicht nach das Theater, im Gegensatz etwa zur Presse?
In der Presse wird immer behauptet, dass die Menschen identisch sind mit sich, und es ist höchstens diese platte Dialektik zugelassen: "Wir dachten, er wäre ein netter Junge, und jetzt hat er seine Freundin mit 17 Messerstichen getötet, also ist er ein Monster." Das ist gerichtspsychologischer Dreck. Theater kann das aufbrechen, denn Schauspieler sind anmaßend: Da steht einer auf der Bühne und behauptet: "Ich bin Hamlet" oder "Ich bin der Bruder von Leonardo di Caprio". Es ist traurig, dass den Menschen immer nur eine Identität zugestanden wird. Was im übrigen den Spiegel angeht, muss man sich auch klarmachen, das für jeden Artikel über "Sex im All" ein wichtiger politischer Artikel fehlt. Wo ist der? Hoffentlich im scheinschlag.

Na, da hätten wir ja schon mal ein Otteni-Interview.
Ob das ein politischer Artikel ist, will ich nicht entscheiden. Interview:
Klemens Vogel

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 04 - 2000