Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
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Interzonen-Alkoholismus

Der neue Roman von Wolfgang Hilbig

"Jeder Dichter, den ich kenne, säuft", sagt der Dramatiker Wolfgang Bauer und hat damit die Berufskrankheit der schreibenden Zunft benannt, mag die eine oder andere Ausnahme diese Regel auch bestätigen. Dem Schriftsteller C., Wolfgang Hilbigs Alter ego in dem neuen Roman Das Provisorium, ist das Trinken gar zu seiner einzigen Beschäftigung geworden. Wir schreiben Mitte der achtziger Jahre, und C. hat ein Visum erhalten, das es ihm erlaubt, zwischen der BRD und der DDR zu wechseln, eine provisorische Existenz. Nach Ablauf des Visums kann er wieder in die DDR zurückgehen oder aber im Westen bleiben. Bis zuletzt ist C. unschlüssig. Er nimmt seinen Wohnsitz in der BRD, in Hanau, später in Nürnberg, und wird, was die finanzielle Seite seiner Existenz betrifft, vom Literaturbetrieb aufgefangen, absolviert Lesereisen am laufenden Band.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Illusionslosigkeit C., der um seine Ausreise ja gekämpft hat, dem Westen von Anfang an begegnet. Die Wahl zwischen der BRD und der DDR, das ist ihm bald klar, ist die Wahl zwischen Pech und Schwefel. Den fröhlichen Konsum in der westdeutschen Fußgängerzone empfindet er als das, was er ist: als Terror. Deshalb kann er sich auch nicht entscheiden: "In gewisser Weise bin ich staatenlos, sagte er sich mit zunehmender Trunkenheit." Jetzt, wo C. endlich die Chance hat, Städte wie Paris, Wien oder München kennenzulernen, nützt ihm das nichts mehr. Der Schriftsteller hängt an Bahnhofs-Imbissen oder in Sexkinos herum, liegt vom Alkohol betäubt in seinen Hotelzimmern. Gerade Bahnhöfe ziehen ihn magisch an, die Möglichkeit, mit dem nächsten Zug gleich wieder nach Osten bzw. nach Westen zu flüchten. Von Nürnberg nach Leipzig geflüchtet, gilt dann der erste Gedanke der nächsten Zugverbindung in den Westen usw. In dieser Krise, die auch eine Midlife-Krise ist und eine Schreibkrise - er bringt keine Zeile mehr zustande - macht C. auch noch zwei Frauen unglücklich: eine in Leipzig, von der sich endgültig zu trennen er nicht die Kraft hat, und eine in Nürnberg - eine Beziehung, die sich bald im Alkohol auflöst.

"Man mußte im 20. Jahrhundert Auschwitz erlebt haben, um noch klagen zu dürfen", heißt es einmal in dem Roman, und wie besessen sammelt C. Bücher zu den Themen Holocaust und Gulag - Bücher, die häufig im Erbrochenen des Alkoholikers enden. Larmoyant ist Das Provisorium aber nicht. Wenn C. sich auch ganz in seine private Krise verbohrt, ist doch deutlich, daß diese ein zeitgeschichtliches Symptom ist. BRD oder DDR, diese Alternative zwischen Privat- und Staatskapitalismus, die keine ist, zerreibt ihn. Daß die "Wende" von 1989 einen C. aus dieser Aporie nicht zu erlösen vermag, versteht sich von selbst.

Unbarmherzig und präzise protokolliert Hilbig C.s Trinkerleben zwischen Ost und West, keine Peinlichkeit und Erbärmlichkeit auslassend. Das ist die Stärke dieses Romans. Nur selten geht der Furor früherer Bücher mit ihm durch, ist von den "sächsischen Wäldern" die Rede oder der zu einer mythischen Bedrohung überhöhten DDR-Industrie, unter der der Arbeiter-Literat gelitten hat. Das Provisorium zählt zu den wenigen Büchern, die einen klüger und sensibler machen im Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte.

Florian Neuner

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. DM 39.80

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