Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
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Selbstmörder und Punks

Neue Lexika

Letztes Jahr ließ der Lexikon Imprint Verlag , Sublabel des Prenzlberger Verlages Schwarzkopf & Schwarzkopf, zunächst die Herzen jedes Liebhabers popkultureller Nischenthemen wie Goth, Stephen King, Fernsehkomiker u.a. höher schlagen. Die Verheissung schlug jedoch bald Enttäuschung oder gar Verärgerung um, als die Unzulänglichkeiten der gelben Bände zutage traten: unschlüssige Auswahlkriterien, Stilblüten und sachliche Fehler. So kürzte die Musikzeitschrift Spex die gesamte Publikationsreihe zu einer der zehn schlechtesten Veröffentlichungen von 1999. Nun schickt Schwarzkopf & Schwarzkopf frische Pferde ins Buchmarktrennen. Das Einheitsgelb ist einem individuellen, themenrelevanten und umschlagfüllenden Bildmotiv gewichen. Eine auch inhaltliche Generalüberholung ist nur teilweise gelungen.

"Das Lexikon der prominenten Selbstmörder" zeichnet sich durch professionelle Schreibe und sorgfältige Recherche aus. Alle üblichen Verdächtigen samt tragischem Ende sind vertreten, von Seneca über Heinrich von Kleist bis zu Rex Gildo. Widersprüchliche Versionen der Todesursache, z.B. bei Ludwig II, den RAF-Mitgliedern, Uwe Barschel u.a. werden unspekulativ einander gegenüber gestellt. Im Anhang befinden sich ein psychomedizinisches A-Z des Suizides, Popsongs, Romane und Filme, in denen Freitod (vollzogen und/oder beabsichtigt) handlungsbestimmend ist, eine ausführliche Bibliographie und eine überflüssige Aufzählung der größten Hits der musizierenden und singenden Selbstmörder. Die Autoren werden ihrem Anspruch gerecht, Selbstmord ein Stück weit zu enttabuisieren und gleichzeitig zu entsensationalisieren. Dabei drängt sich die Frage auf, ob ein Lexikon die geeigneteste Präsentationsform dieser beachtlichen Materialsammlung ist - man kann nachschlagen, ob der Lieblingsschauspieler (-musiker, -autor, antiker Philosoph, Revoluzzer usw.) sich selbst ins Jenseits befördert hat. Kulturhistorische, soziale und psychologische Zusammenhänge lassen sich jedoch schwer erschliessen.

Beim Punk-Lexikon bleibt es leider nicht bei wenigen Beanstandungen. Schlampige Recherche und schwammige Konzeption durchziehen das Werk. So werden beispielsweise die Coverversionen der Dead Kennedys von "Viva Las Vegas" und "Rawhide" irrtümlich Jello Biafra solo zugeschrieben, Nina Hagens 1982er LP "Nun Sex Monk Rock" zweimal der Rock aberkannt und die aus Dublin stammenden U2 dem "Ulster Punk" zugeordnet. In der Einleitung outet sich Autor Christian Graf immerhin als damaliger Stones-Fan, verrät aber nicht, wie er Punk eigentlich definiert. Die Abgrenzung von Punk und New Wave (Gegenstand Grafs nächsten Nachschlagewerkes im selben Verlag) ist ahistorisch und unlogisch, verlaufen doch die Übergänge zwischen beiden Musikstilen fließend. Vielleicht hätten beide Lexika in einem Band oder zumindest gleichzeitig erscheinen sollen. Dann hätten Ungereimtheiten vermieden werden können wie die Auslassung von Talking Heads, auf die sich mehrere Einträge beziehen, oder die Erwähnung des Dokumentarfilmes "The Year That Punk Broke" ohne Anführung dessen Protagonisten Sonic Youth und Nirvana. Einige Bands aus allen Epochen und Genren sind lediglich mit einer Diskographie vertreten. Warum, weiß nur der Erfinder. Immerhin sind diese recht ausführlich und die internationale Ausrichtung lobenswert. Kanadische, australische, neuseeländische und deutsche Namen gesellen sich zu den angloamerikanischen Heroen, wobei eine Berücksichtigung von DDR-Punks und deren Rolle bei der allmählichen Staatstreuenerosion der Jugend hilfreich gewesen wäre .Läßt nur hoffen, daß Grafs New Wave-Nachschlagewerk und die nächsten Publikationen des "Lexikon Imprint Verlages" einen qualitativen Quantensprung machen.

Natalie Gravenor

Gerald Grote, Michael Voelkel, Karsten Weyershausen: Lexikon der prominenten Selbstmörder

Christian Graf: Punk-Lexikon, beide Schwarzkopf & Schwarzkopf 2000, DM 29,80

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