Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
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Mammas Tod, magisch-realistisch

"Orphans" von Peter Mullan

Manchmal erscheint es so, als wäre ein Film nur um eine oder zwei Bildideen herum geschrieben worden. Ein Regisseur hatte eine Idee, und das erzählt er einem Autor und das... - keine Bange, es geht nicht um Wim Wenders. Sondern um Peter Mullan, eher als Schauspieler - z.B. aus dem Ken-Loach-Film "My Name is Joe" - bekannt. Sein Regiedebüt heißt "Orphans"-Waisen.

Vier Geschwister, drei Männer und ihre behinderte Schwester, nehmen in Glasgow Abschied von ihrer toten Mutter. Sie haben ihr versprochen, zusammenzubleiben und sich umeinander zu kümmern. Eine Rückblende zeigt die vergangenen schönen Tage. Während der Trauerfeier in einem Pub gerät Michael, der mittlere Sohn, in eine Schlägerei. Ein anderer feiert gleichzeitig die Geburt eines Kindes. Michael wird durch einen Messerstich verletzt. Der jüngste, John, dreht daraufhin durch und will seinen Bruder rächen, indem er den Messerstecher erschießt. Der älteste Bruder Thomas wird später die im Rollstuhl sitzende Schwester Sheila alleinlassen, nur um die Totenwache unausgesetzt halten zu können. Er hat es dem Pater versprochen. Alle vier benehmen sich merkwürdig, als wären sie überhaupt nicht miteinander verwandt. Sie rennen kopflos auseinander. Jeder muß alleine mit dem Verlust fertigwerden.

Michael läßt seine Verletzung nicht behandeln, weil er sie seinem Arbeitgeber unterschieben möchte, um Schmerzensgeld zu kassieren. Beinahe verblutet er. John begibt sich auf eine Odyssee mit einem schmierigen, sadistischen Pizzaausfahrer, der ihm die Knarre besorgen soll, das Problem sind nur die Patronen. Sheila fährt alleine mit dem Rollstuhl los, der plötzlich in einer Gasse stehenbleibt, findet allerdings Menschen, die sie aufnehmen und ihr helfen. Thomas sitzt in der Kirche und versucht, die Madonna, die Sheila versehentlich umgeworfen hat, mit Kerzenwachs zu flicken.

Einmal sagt einer, daß Glasgow voll mit Waffen ist, für die es aber keine Munition gibt. Und genau wie die Waffen scheinen die vier Waisen zu sein: Voller Trauer, ohne zu wissen, wie sie damit umgehen sollen. Nur Wut und Gewalt sind ihnen bekannt. Sie müssen erst die Unmöglichkeit ihrer Art der Trauerarbeit erkennen, ehe sie über den Schmerz sprechen können, wie Michael. Kurz bevor er im Betrieb umkippt und nachdem er alle anderen für alles andere verantwortlich machen will, schreit er: "Ich will meine Mama wiederhaben". Dann kippt er nach hinten auf eine Palette, mit der er rücklings mit abgespreizten Armen auf dem Wasser dahintreibt. Das ist so ein Bild.

Er kann sich zu seinen Gefühlen bekennen. John wird den Schläger nicht töten, weil er ein kleines Kind hat. Aber auch Thomas, der anscheinend Trauer zeigt, macht das nur symbolisch, weil er es dem Priester versprochen hat.

Alles geschieht in der Nacht vor der Beerdigung, in der sich am Himmel ein Orkan zusammenbraut - der Orkan als Symbol für die Gefühle der Geschwister. Diese ungezügelten Emotionen drohen die übrig gebliebene Familie zu zerstören. Das Dach der Kirche, in der Thomas die Totenwache hält, wird der Sturm abreißen. Noch eines von den Bildern, die im Gedächtnis bleiben und die man eher in südlicheren Gegenden und nicht in Glasgow vermuten würde, eine Art schottischer magischer Realismus. Genauso aber, wie der Orkan vorbeigeht, glätten sich die Wogen in der Beziehung der Geschwister zueinander. Am Ende scheint wieder die Sonne, im wahren als auch übertragenen Sinne.

Ingrid Beerbaum

Orphans.
Regie und Drehbuch: Peter Mullan
Dasteller: Douglas Henshall, Gary Lewis, Rosemary Stevenson
Großbritannien 1998
Ab 16. März im fsk am Oranienplatz

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