Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1900

23. März bis 19. April

Operettendirektor Ferenczy ist von einer größeren Reise zurückgekehrt, auf der er für Berlin interessante Novitäten erworben hat. Zunächst das neueste Werk des Geisha-Komponisten Sidney Jones "San-Toy" und die mit großem Erfolg in Wien gegebene Operette "Rhodopé". Für beide Werke konnte Ferenczy die berühmte englische Soubrette Miss Halton für Berlin verpflichten. Außerdem erwarb er in Wien das letzte Nachlasswerk von Johann Strauß, dessen Titel noch nicht feststeht, sowie in Budapest das erfolgreiche Werk "Kleopatra" des ungarischen Komponisten Vöró.

Teng Jün, der junge Ataché der hiesigen chinesischen Gesandtschaft verlobt sich mit Katharina Schweinitz, der Tochter des verstorbenen Bildhauers Schweinitz und seiner Gattin, geb. Meyerheim.

Paul Heyse schrieb in seinen kürzlich veröffentlichten Jugenderinnerungen: "Meine Eltern wohnten die ersten Jahre in einem Hause der Heiligengeiststraße, das, wenn ich mich recht entsinne, der Familie Salomon gehört hatte, und wo auch ich zur Welt kam." Nach dem Adreßkalender von 1829 und 1830 hat Heyses Vater, der außerordentliche Professor der philosophischen Fakultät der Universität Berlin war und Lehrer an der Berlinischen Gewerbeschule, der heutigen Oberrealschule in der Niederwallstraße, damals in der Heiligengeiststraße 15 gewohnt. Dieses Haus steht noch heute!

Es ist unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Zweiten im 18. Jahrhundert erbaut, die Fassade ist zwar inzwischen neu verputzt, doch steht es sonst noch unverändert da. Der breite Hausflur, die breiten Treppen mit dem kunstvollen, schmiedeeisernen Geländer und die hohen, noch ursprünglichen Flügeltüren zeigen, dass wir es mit einem alten, vornehmen Berliner Patrizierhaus zu tun haben. Bis vor einigen Jahren waren die Zimmer, die jetzt meist Geschäftszwecken dienen, sehr luxuriös eingerichtet. Da sah man eingemauerte kostbare Kamine und Spiegel, die leider alle entfernt worden sind. Um die erste und zweite Etage lief eine mit Glasfenstern versehene Galerie, die zur Hälfte noch heute erhalten ist.

In der Generaldiskussion zur Diätenfrage im Reichstag am 27. März sind nicht mehr Abgeordnete und Tribünenbesucher anwesend als gewöhnlich. Nach dem Abgeordneten Fischbeck von der Freisinnigen Volkspartei sei auf die Diätenlosigkeit die dauernde Beschlussunfähigkeit des Hauses zurückzuführen, welche die Abwicklung der Geschäfte erschwere. Dagegen will der Abgeordnete Bassermann statt Diäten lieber "Anwesenheitsgelder". Die Sessionen seien zu lang und anstrengend. Die Diätenlosigkeit habe nicht verhindert, dass immer anwesende Berufsparlamentarier ins Haus gekommen seien. Die Präsenzziffer werde man am besten heben, wenn man Diäten für die wirkliche Teilnahme an den Sitzungen einführe. Von Kardorff (Rp.) tritt für die Gewährung von Freikarten auf allen Bahnen für die Abgeordneten ein. Der Reichstag nimmt mit großer Mehrheit den Antrag auf Gewährung von Anwesenheitsgeldern und Erstattung der Reisekosten der Abgeordneten an.

Der Berliner Lokal-Anzeiger erhält von Hubert von Herkomer einen Brief:
"Herr Geheimrath Professor Hermann Ende, Präsident der Königlichen Akademie der Künste in Berlin, kam zu mir mit einem Zeitungsausschnitt aus einem französischen Journal, in dem ausführlich constatirt wurde, daß auf der internationalen Kunstausstellung in London in diesem Jahre Werke deutscher Künstler nicht zugelassen werden wegen der in Deutschland vorherrschenden Sympathien für die Boeren.

Diese Notiz ist in viele deutsche Zeitungen übergegangen; ich erklärte sofort, daß diese Behauptung nicht nur nicht möglich sondern im höchsten Grade lächerlich sei. Die Thatsache, daß in diesem Jahre überhaupt keine internationale Ausstellung in London stattfindet, dürfte genügen, diese durchsichtige Fabrikation zu zerstören. Außerdem aber weiß ich, daß diese angedichtete Stimmung gegen Deutschland von einigen Zeitungen des Auslandes nur aus politischen Gründen aufgetischt wird; ich habe sofort an den Präsidenten der Royal Academy in London, Sir Edward Poynter, geschrieben, der in seiner Antwort sagt wie folgt:
"Ich kann unmöglich verstehen, worauf sich die Mittheilung beziehen soll, daß von Seiten irgend einer englischen Gesellschaft eine Bestimmung existieren sollte, deutsche Kunstwerke nicht anzunehmen. Seien Sie überzeugt, daß die Royal Academy in London hiermit nichts zu thun hat, noch daß dieselbe je daran denken würde, eine solch kindische und verächtliche Absicht in Betracht zu ziehen, am allerwenigsten einer Nation gegenüber, mit der wir meines Wissens und meiner Ueberzeugung nach die besten Beziehungen unterhalten."

Die ganze Sache läßt sich wohl so zusammenfassen, daß hier ein Versuch eines gewissen verantwortlichen Theils der französischen Presse vorliegt, Mißstimmung zwischen England und Deutschland hervorzurufen."


Falko Hennig

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