Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
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Flucht in die Villa

Im Weglaufhaus sind wohnungslose Psychiatriebetroffene sicher vor psychiatrischer Gewalt

Keine Psychiater, keine Psychopharmaka, keine psychiatrischen Diagnosen, kein Zwang - so lauten die Grundregeln im Weglaufhaus "Villa Stöckle" in Frohnau. Hier können Psychiatriebetroffene sechs Monate wohnen, um ihre Krisen zu durchleben.

Die Mitarbeiter der Kriseneinrichtung unterstützen sie dabei durch ihr antipsychiatrisches Grundverständnis: "Wir nehmen die Bewohner ernst, auch in ihren Verrücktenzuständen. Wir glauben ihnen ihre Geschichte ohne Gutachten oder Beschreibungen anderer Einrichtungen", sagt Weglaufhaus-Mitarbeiterin Iris Hölling. "Unsere Hauptaufgabe ist es, dabeizusein als ein ehrliches Gegenüber, Alltagsunterstützung zu geben und uns auseinanderzusetzen." Die Bewohner sollen eigene Entscheidungen treffen und nicht von Institutionen aufgesogen werden.

Wir trauen ihnen etwas zu

Das Wichtigste: Ihre Krisen werden hier nicht als Krankheit begriffen, denn "Verrückte sind nicht krank, sondern auf einem für andere schwer verständlichen Weg auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dafür brauchen sie keine Psychopharmaka, die ihr Gehirn lahmlegen, keine Therapie, die ihnen einredet, sie seien behindert. Statt dessen brauchen sie Ruhe, Zeit, Verständnis und Ermutigung", heißt es im Mitteilungsblatt des Hauses.

Rudolf Sappel hat dieses Verständnis im Weglaufhaus gefunden: "Das es tatsächlich Menschen gibt, die sich nicht nur Menschen nennen, sondern es auch sind, habe ich hier in der Villa Stöckle erfahren, wo ich aus der Obdachlosigkeit aufgenommen wurde.", erzählt er. In der Psychiatrie war das Leben für ihn eine unbeschreibliche Qual: "Hätte ich gekonnt, wäre ich gestorben."

Die Hausbewohner sollen während ihres Aufenthaltes neue Berufs- und Lebensperspektiven entwickeln: "Wir trauen den Leuten zu, eine Ausbildung zu machen, auch wenn ihnen immer gesagt wurde, sie könnten sowieso nichts," erklärt Iris Hölling. Die Mitarbeiter, ein Teil von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Verrücktheit und Psychiatrisierung gemacht, kümmern sich gemeinsam um eine neue Wohnung, eine Arbeit oder Ausbildung. Die Bewohner werden auch zu Arzt- und Anwaltsterminen begleitet. Tag und Nacht sind Mitarbeiter im Haus, mit denen die Bewohner als Vertrauenspersonen sprechen.

Die meisten Menschen, die bisher im Weglaufhaus wohnten, kamen aus der Psychiatrie oder von der Straße. Fast die Hälfte konnte danach in eine eigene Wohnung oder eine betreute WG ziehen.

Einmaliges Pilotprojekt

Das Pilotprojekt ist bisher einmalig in der BRD und war schon lange vor seiner Eröffnung im Jahr 1996 ein Politikum in der Stadt.

Unter den wechselnden Machtverhältnissen in Berlin gab es immer wieder kritische Situationen, in denen das Weglaufhaus "die Rolle als Pingpongball zwischen den Parteien" spielte, wie es Mitarbeiterin Kerstin Kempker formuliert. 1989 war das Weglaufhaus Bestandteil des rot-grünen Koalitionsvertrages. Auch noch 1990 bewilligte die SPD-Senatorin Ingrid Stahmer die Finanzierung des Hauses. Doch als 1990 die rot-grüne Koalition zerbrach, zeigte das neue CDU-SPD-Bündnis kein Interesse mehr und lehnte das Projekt ab. "Nach dieser Katastrophe fiel es uns schwer, noch an einen Erfolg zu glauben. Es gab eine Phase der Wut, Enttäuschung, Lähmung und Unentschlossenheit", erzählt Psychologe Burkhart Brückner.

Doch als dann ein anonymer Spender dem "Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt" überraschend eine Million Mark schenkte, um ein eigenes Haus zu kaufen, rückte das Projekt wieder in greifbare Nähe. Trotzdem vergingen noch weitere sechs Jahre bis zur Eröffnung, in denen sich die Vereinsmitglieder mit Bezirks-, Bau- und Sozialämtern herumärgern mußten. Für das bisher unbekannte Projekt gab es keine festen Regeln: Welche Verwaltungen sind zuständig? Wie wird die Betreuung der Bewohner finanziert? Ist das Weglaufhaus eine WG oder ein heimähnlicher Betrieb?

Die Weglaufhaus-Gründer mußten sich auch mit den Anwohnern im Frohnauer Villenviertel auseinandersetzen. Diese waren gegen eine Unterbringung von Psychiatriebetroffenen in ihrer Nachbarschaft und gründeten eine Bürgerinitiative gegen das Weglaufhaus: "Offensichtlich hatte ein Teil der Leute Angst, weil in ihren Köpfen das Klischee von den gewalttätigen und unberechenbaren Irren herumspukte. Sie schrieben von möglichen Gefahren für ihre Kinder auf dem Schulweg, bezeichneten das Weglaufhaus als Zeitbombe und Gefahrenquelle ...", erinnert sich Brückner.

Politisch motivierte Gegnerschaft

Ende vergangenen Jahres befürchteten die Mitarbeiter das Ende ihres Projektes. Der Vertrag mit dem Berliner Senat lief aus. Alle anderen Kriseneinrichtungen hatten bereits ein neues Finanzierungsangebot erhalten, das Weglaufhaus nicht. Die Mitarbeiter erfuhren, daß die Senatsverwaltung mehrere Gutachten über das Weglaufhaus anfertigen ließ, auch von der Karl-Bonhoeffer Nervenklinik und dem Sozialpsychiatrischen Dienst.

Doch in den Stellungnahmen stand nichts, was eine Schließung des Weglaufhauses rechtfertigte: "Unsere Arbeit wurde sogar als sachlich und notwendig angesehen,", sagt Mitarbeiter Stefan Bräunling, "deshalb denken wir, daß hinter dem Finanzierungsstop eine politische motivierte Gegnerschaft stand, um das Weglaufhaus zu schließen."

Zwar gibt es für 1999 eine Übergangsregelung, doch in den nächsten Wochen wird eine neue Rahmenvereinbarung ausgehandelt. Dann müssen sich Mitarbeiter und Bewohner wieder auf neue Auseinandersetzungen einlassen, um ihr Projekt zu erhalten.

Darum wünscht sich Iris Hölling: "Die politischen Feindschaften müssen endlich aufhören. Es sollte, trotz inhaltlicher Widerstände, die manche Leute haben, eine Anerkennung für unser Projekt geben." Das Weglaufhaus ist zur Zeit voll belegt.

Stefan Strauß

Kontakt: 40632146
Literaturtip: Kerstin Kempker (Hg): Flucht in die Wirklichkeit - Das Berliner Weglaufhaus, Antipsychiatrieverlag, Berlin 1998, 34 Mark

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