Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für laue Nächte / Musik ohne Worte

"wie still es hier ist, den kopf ans kissen gelehnt, in gedanken mit dir. in diesem jahr haben wir alle zimmer fotografiert in denen wir gewohnt haben. wie angehaltene momente die man aus dem gedächtnis heraus weiterlaufen lassen kann. eine erinnerung die kein rückblick ist."

Die Prosa - Miniatur entstammt dem Inlay der neuen To Rococo Rot-Platte und ist wohl kaum mehr als ein Interpretationsangebot. Doch einmal gelesen tauchen tatsächlich permanent fotografische Momente beim Hören auf. Der französische Philosoph Roland Barthes unterscheidet bei der Betrachtung von Fotos zwischen dem Studium - also das, was für jeden auf dem Bild zu erkennen ist - und dem punctum. Ähnliches könnte auch für Musik gelten: Zu hören ist auf "Amateur View" (CitySlang/Efa) das, was weitestgehend als Postrock/Krautrock und deren Fortführungen zu bezeichnen ist. Diese Klassifizierungen nennt Barthes in Bezug auf die Fotografie und die kalkulierte Wirkung "Dressur". Nicht umsonst wehren sich Musiker gegen Schubladen und Einordnungen. Natürlich weist auch das Berlin-Düsseldorf-Projekt To Rococo Rot diese Elemente auf, denn ohne Kategorien geht es nun einmal nicht, aber fast jeder Track geht darüber hinaus. Irgendetwas springt aus den Stücken heraus und erzeugt oben beschriebene angehaltene Momente - punctum.

Gleichfalls postrockig spielen Couch mit "Fantasie" (Kitty-Yo) auf. Allerdings geben sich die Münchener weniger verträumt und versunken. Eben rockiger. Was nun aber keinesfalls heißt, daß diese Musik nicht abstrakt ist. "Fantasy" klingt trotz des Grooves, der an vielen Stellen direkt tanzbar ist, kontrolliert. Weite Spannungsbögen und im-mer wieder kleine Variationen in den repitativen Stücken lassen ausgetüfteltes Songwriting erkennen.

Die dritten in diesem seltsamen Bund des ausufernden Postrock sind Mogwai. Mit "Come On Die Young" (Rough Trade) entfernen sich die vier Glasgower allerdings am weitesten aus dem Popkontext. Extreme Verlangsamung gestützt auf weiträumige Gitarrenstrukturen, verzichten Mogwai größtenteils auf Gesang. Allerdings gibt es langgezogene Hintergrund-Samples oder wie in "Punk Rock:" einen Sprechpart von Iggy Pop. Das klingt dann immer wieder nach Soundgebirgen ˆ la Sonic Youth. Auch wenn "Come On Die Young" eher versunken wirkt, sind die Stücke nie weich und glatt. Deutlich wird auf jeden Fall, daß bei Mogwai Improvisation eine wesentlich größere Rolle spielt als bei Couch und To Rococo Rot. Trotzdem hätte man auch bei Mogwai nichts gegen ein Kissen im Nacken einzuwenden, um den Blick schweifen und die Hast anderer vorbeiziehen zu lassen. Musik für laue Nächte eben.

Marcus Peter

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 05 - 1999