Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
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Kein zufälliger Ort des Gedenkens

Im ehemaligen Lager Sachsenhausen wird umgebaut

Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen, in Sichtweite von den Eigenheimsiedlungen der Stadt Oranienburg errichtet, ist heute ein seltsam stiller Ort. Auf der großen Dreiecksfläche des früheren faschistischen Todeslagers befindet sich vor allem Rasen. Seitdem die DDR-Regierung das Lager als Nationale Mahn- und Gedenkstätte 1961 einrichtete, hat sich baulich wenig verändert, das ursprüngliche KZ aber war schon damals weitgehend zerfallen oder zu Brennholz der Einheimischen geworden. So ist das Lager heute ein Ort von Überresten, spröden Fragmenten. Mit ihnen muß es gelingen, für Menschen, die nie im Faschismus lebten und nie im Lager saßen, verständlich und fühlbar zu machen, was hier einst geschah.

Große Steinquader mit eingemeißelten Nummern bilden heute auf den Rasenflächen die einstigen Barackenstandorte ab, jeder für sich ist wie ein karges Denkmal. Nur zwei der einst Dutzenden länglichen Holzbehausungen existieren noch. 1992 wurde eine von ihnen durch einen Brandanschlag rechtsradikaler Jugendlicher halb zerstört, auf den Wiederaufbau hat man verzichtet, die Brandspuren bleiben. Statt dessen wurde der Bau durch einen Stahlkörper ergänzt, darin dokumentiert heute eine Austellung die Verfolgung der Juden. Eine Barackenhälfte füllen dreistöckige, primitive Holzpritschen in engem Spalier bis zur Decke, zusammen mit einer dichten Reihe nackter Kloschüsseln müssen sie die erbarmungslose Menschenhaltung der Nazis vorstellbar machen. Von dem hinter einer Mauer verborgenen Zellenbau, in dem Gefangene teilweise jahrelang in Dunkelhaft saßen, steht noch ein sauber gekalkter Gebäudeflügel mit groben Strohsäcken in den Zellen, darin Fotos vom Galgen davor. Eine Gruppe Jugendlicher rennt ungerührt hindurch und erzählt sich Witze. Ob für sie wohl weiße Kacheln und glatte Schlächtertische genügen, um das sogenannte Krankenrevier wachzurufen, in dem perfide Ärzte Giftversuche an Menschen unternahmen, Tätowierungen zum Sammeln ausschnitten und Goldzähne für die Reichsbank ausbrachen? Können ihnen die beiden erhaltenen Wachttürme, von denen der am Eingang so positioniert war, daß mit einem Maschinengewehr das ganze Lager beherrscht werden konnte, die Ausweglosigkeit der Häftlinge vermitteln?

Ziemlich unwirklich scheint hier die in Berlin und bundesweit brandende Diskussion um das Holocaust-Denkmal am Pariser Platz, um das nun schon seit fast zehn Jahren gerungen wird. Doch das einstige Lager am Rande Berlins hat mit der Debatte um das neue innerstädtische Denkmal viel zu tun. Denn seit dem Auftauchen von Kulturstaatsminister Michael Naumann geht es nicht mehr nur um die künstlerische Form oder die Größe des künftigen Mahnmals. Diskutiert wird längst die Frage, wie demnächst in Deutschland der faschistischen Zeit, des millionenfachen Mordes und der demagogisch durchgeformten Diktatur überhaupt gedacht werden soll. Und da hat sich Naumann mit seinem Vorschlag, den schon gewählten Entwurf des Architekten Peter Eisenman (ein großes Feld anonymer Steinsäulen) zu verkleinern und stattdesssen um ein großes Holocaust-Museum inklusive Bibliothek und Forschungsinstituten zu ergänzen, ein großes und bedeutsames Heer von Widersachern geschaffen: die Mitarbeiter der vorhandenen Gedenkstätten zur faschistischen Diktatur.

Sicher kann man bei ihnen die eigennützige Abwehr von Konkurrenz als Motivation nicht ganz ausschließen. Doch die Argumente, die die Gedenkstätten vortragen, sind gewichtig und berechtigt. Was sie am Pariser Platz befürchten, ist eine künstlich zentralisierte Disney-Gedenkkultur, die Erzeugung eines pompösen, aber völlig zufälligen Andenkenortes zur schnellen Abbitte für die Einheimischen und als eiliger Programmpunkt für Touristen. Und das, obwohl gerade Berlin als einstige Reichshauptstadt genug authentische Stätten besitzt und sie auch als Erinnerungsorte eingerichtet hat: die "Topographie des Terrors" am ehemaligen Sitz der Gestapo, die Museen im Bendlerblock, im Haus der Wannseekonferenz, im Gefängnis Plötzensee und etliche andere. Vor allem aber gibt es rund um Berlin die KZs, erhaltene wie Ravensbrück bei Fürstenberg und eben Sachsenhausen, oder weitgehend vergessene wie das "Zigeunerlager" in Marzahn, das 1936 zur "Säuberung" der Olympiastadt errichtet wurde.

Im Grunde schließen Holocaust-Museum und authentische Gedenkstätten einander nicht aus, und es ist nur zu begrüßen, daß das neuentstehende Staatsgebilde an der Spree über sein Zeichen an die Öffentlichkeit nachdenkt. Denn hier handelt es sich nicht nur um eine Aussage, sondern auch um eine Selbstaussage, und da kann nur eine Warnung sein, wenn die Dauerdiskussion zuletzt gar den Vorschlag von CDU-Parlamentariern hervorbrachte, auf den Plan ganz zu verzichten. Verantwortungsvoll erwogen werden muß aber weiter die Frage, ob denn im Fall eines neuen Holocaust-Museums die Schulklassen künftig noch an die Originalorte fahren werden, aber auch, ob nicht andererseits vielleicht mehr Menschen sich dem Thema widmen werden, wenn sie ihm so nah, so zentral begegnen. Außerdem geht es hier wie immer auch um ein Problem des Geldes: Die für die Naumannsche Denkmals-Version anvisierten 150 Millionen Mark würden in den dezentralen Gedenkstätten fehlen.

Für das Lager Sachsenhausen hätte das katastrophale Folgen. Allein für die dringendsten Reparaturen sind Millionenbeträge erforderlich. Die sogenannte Vernichtungs-"Station Z" mit den Resten der Genickschußanlage und dem Krematorium ist absolut baufällig. In einem Gestaltungswettbewerb wurde daraufhin vergangenen Herbst der Abriß des großen Daches festgelegt, das die DDR über die Anlage gespannt hatte, wie vor 1945 wird sie auch wieder vom Lager abgetrennt sein. Verschwinden wird auch die weitgeschwungene, hohe "Kreuzmauer", die den Appellplatz umfaßte, damit die einstigen Schußlinien des Maschinengewehrs auf dem Wachturm und seine totale Kontrolle wieder vorstellbar werden. Statt der Steinquader mit Zahlen werden etwas vertiefte Flächen im Grundriß der alten Baracken geschaffen. "Historische Genauigkeit" nennt das alles Günter Morsch, der heutige Leiter der Lagergedenkstätte. Für ihn ist dies das oberste Gebot in Sachsenhausen.

Darum treibt Morsch noch ein weiteres Problem um. Was das Lager zeigen soll und wie, wird seit Jahren wieder neu diskutiert. Auch das ist eine Folge der Wende. Morsch muß auf dem einen Gelände gleich für zwei Lager eine angemessene Gedenkform entwickeln, denn eben hier betrieb nach 1945 die sowjetische Militäradministration ihr größtes Internierungslager. Noch einmal starben - vor allem an Hunger und den allgemeinen Lagerbedingungen, aber auch infolge Willkür - fast 12 000 Menschen, darunter viele Unschuldige. Bislang gab es dafür kaum eine Dokumentation. Inzwischen sind die davon stammenden Massengräber gestaltet, Ende April entschied ein Preisgericht über den Entwurf für einen Museumsneubau. Ab Ende 2000 wird der außerhalb der Mauern des faschistischen Lagers stehen, ein nackter, die Umgebung spiegelnder Betonquader mit nur zwei Fenstern: eines zu den Gräbern, das andere zu den Baracken.

Die DDR hatte das KZ wie so viele Orte als Stätte politischer Erziehung verstanden, da verschwieg sie das sowjetische Lager. Vielmehr betonte sie in ihrer bis jetzt erhaltenen Exposition in der früheren Küchenbaracke die Befreierrolle der Sowjetsoldaten, die Dankbarkeit der Häftlinge. Eigentümlicherweise ist diese Ausstellung mit ihren wenigen Bildern und grellen Fakten von den Verbrechen der Faschisten viel berührender als die feingliedrige, in teuren Vitrinen multimedial daherkommende Dokumentation der Judenverfolgung. Wirkt so die Kraft der (zu) einfachen Wahrheiten? Draußen stellte die DDR eine große Skulptur Waldemar Grzimeks an den Fuß eines riesigen Obelisken, sie zeigt zwei Gefangene von einem Soldaten umfaßt - einem Sowjetsoldaten offensichtlich. Davor befindet sich eine Rednertribüne mit Appellplatz, auf dem schworen einst die Soldaten der NVA ihren Diensteid. Politische Vereinnahmung des Lagers ist das gewiß - aber ein Eid sicher nicht der Schlechteste, der Soldaten zum Antifaschismus verpflichtet. Auch dieser Teil wird umgebaut. Schließlich wird auch der angrenzende Betriebshof mit den Lagerwerkstätten nun in die Gedenkstätte einbezogen. Noch bis 1989 hat darauf die NVA einen Stützpunkt gehabt, auf dem eisenen Tor stehen ihre Initialen bis heute. Ein seltsam stiller Ort.

Von politischer Einflußnahme ist das KZ wohl auch heute nicht frei, und sei es nur wegen der Tendenz in der Bundesrepublik, im historischen Vergleich alle Diktaturen in der einen großen Totalitarismusthese gleichzusetzen. Auch daran hat die Naumann-Diskussion erinnert. Bislang hat sich Sachsenhausen mit seinem akribischen Leiter relativ sensibel bemüht, solcher Vereinnahmung zu entgehen. Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der beiden Lager werden in der Dokumentation wohl verständlich werden. Aber andere Initiativen kommen auch hier kaum voran, wie die von Berliner Studenten initiierte Jugendbegegnungsstätte in der Villa des KZ-Inspektors Theodor Eicke oder das von Antifa-Gruppen geförderte Sommercamp an der Gedenkstätte. Und dann sind da noch die Jugendlichen, die in der KZ-Exposition vor dem gelben Judenstern sagen: "Geil, so was habe ich auch zu Hause", oder die Frau, die sich gegen die Dokumentaion des sowjetischen Lages auflehnt mit den Worten: "Warum drängen Sie denn den Oranienburgern etwas auf, was sie nicht wollen?" Wie man den Leuten eine Erfahrung vermittelt, die sie glücklicherweise selbst nicht durchleben mußten, bleibt eine dringliche Frage. Im Juni soll die Entscheidung über das Holocaustdenkmal am Pariser Platz endlich fallen.

Stefan Melle

Foto:
Knut Hildebrandt

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