Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
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The never-ending Schlingensief

Wird Christoph Schlingensief genauso braungebrannt wie Gregor Gysi sein, wenn er wie dieser vom Balkanurlaub zurückkehrt? Interessiert das irgendjemanden? Interessiert Schlingensief überhaupt? Wohl kaum.

Aus dem enfant terrible, das einst aus guten Gründen den Film und dann das Theater revolutionieren wollte, ist ein pubertierendes Medienhätschelkind bar jeder Substanz - und was in alternativkultureller Hinsicht wesentlich schwerer wiegt - bar jeglichen Verantwortungsgefühls geworden. Geworden, denn zumindest seine Theaterevents "Rudi Dutschke" und "Raumschiff Europa" waren ein Wunderwerk postheroischen Eklektizismus`, tief gelegter Revoluzzer- und Medienkritik. Ganz nebenbei wurden ganze Genres dekonstruiert. Da verfügte Schlingensief jedoch noch über ein streng definiertes Terrain - das Theater - und kompetente Gönner, die in ihm eine Allzweckwaffe sahen, mit der der allgemeinen Krise des Theaters begegnet werden könnte. Die theaterinterne Allianz hielt zwei Sommer, danach wandte sich Schlingensief fast ausschließlich pseudopolitischen Spielereien zu. Den Anfang vom Abgang markierte das unsägliche Wahlkampfspektakel "Chance 2000". Zuviel Realitätsabklatsch; eigentlich hechelte die Schlinge-Gang sogar der erbärmlichen Wirklichkeit hinterher. Rein neoliberal suggerierte sie jedem seine Chance. Ein Glück, daß kaum ein Deklassierter darauf einstieg. Schlingensief funktioniert nur noch als medial verstärktes Grundrauschen. Die Flatline wird zum Signal moduliert. Wie beim "steirischen herbst" in Graz, als eine Schlingensiefsche Presseerklärung die Obdachlosen Europas zum Wettsitzen einlud. Weder gab es Kontakt mit Obdachlosen noch wurde eine ausreichende Infrastruktur eingerichtet; von weitergehenden politschen Konzepten ganz zu schweigen. Die Haidernahe Presse griff den Blödsinn jedoch auf und malte gar fürchterliche Bilder einer "Sandler-"über-fluteten Alpenrepublik. Schlingensief ernährt sich parasitär vom Medienecho. Jetzt ist das nächste Manipulationsobjekt dran: die zwischen die zwei Pole der Globalisierung geratenen Flüchtlinge aus dem Kosovo. Auch sie interessieren Schlingensief nicht wirklich. Er vermag seinen 50 auserwählten Vertriebenen keine individuelle Perspektiven zu eröffnen. Und auch er erkennt nicht, daß Milosevic und NATO nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek hat als einer von ganz wenigen luzide begründet, daß Nationalismus ˆ la Milosevic nur ein randständiges Symptom des globalisierten Kapitalismus ist und nicht sein "natürlicher" Gegner. Die Optionen Pazifismus oder Bellizismus sind keine wirklichen. Schlingensief versagt als potentieller Theoretiker und als politischer Akteur. Als Analytiker seines heimischen Systems, der Medien, ist er schon lange gescheitert. Da ihm eine phönixartige Metamorphose nicht mehr zuzutrauen ist, scheint die günstigste Variante der Abwicklung in einer Adaption US-amerikanischer Zeugenschutzprogramme zu liegen: Zurück auf "GO" mit einer neuen Identität an einem unbekannten Ort.

Tom Mustroph

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  Ausgabe 05 - 1999