Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

20. Mai bis 16. Juni

Seltsames Glück hat am 31. Mai der vierjährige Walter, Söhnchen des Tapetenfabrikanten S. aus der Andreasstraße 63. Der Knabe klettert auf das Brett des Fensters im ersten Stock, öffnet es und blickt auf die Straße. Er beugt sich zu weit vor, stürzt hinaus. Ein vorübergehender Arbeiter fängt das Kind mit den Armen auf, das sonst aufs Pflaster geschmettert wäre. Die Wucht des Falles ist so stark, dass der Retter wie auch der gerettete Knabe am Boden liegen. Der zu Hilfe gerufene Arzt kann jedoch keine Verletzung bei den beiden feststellen. In seiner freudigen Aufregung versäumt der Vater des Geretteten die Person des jungen Mannes festzustellen.

Der 25jährige Wilhelm Buschkow ist verlobt und will noch im Juni seine Hochzeit feiern. Er ist auf dem Weg zu seiner Arbeit in der "Union" Elektricitätsgesellschaft, Huttenstraße. Endlich dort angekommen kommt ein 40 Zentner schwerer Werkstattblock ins Schwanken und zerquetscht Buschkow auf dem Boden des Fabrikraumes. Hervorgezogen gibt er zwar noch schwache Lebenszeichen von sich, verscheidet aber während des Transportes zum Moabiter städtischen Krankenhaus.

18 360 000 Personen haben in den letzten 29 Jahren und 5 Monaten in der "Akademischen Bierhalle" am Hegelplatz gespeist, die mit dem letzten Maitag ihre Pforten für immer schließt. Der Besitzer des Lokals, Herr Theodor Müller, glaubt sogar an eine noch höhere Zahl. Berechnet ist die obige Menge nach einer täglichen Personenzahl von 1500 bis 2000 Personen, die nicht nur Mittags, sondern auch zu Abend dort aßen. Der jährliche Umsatz betrug 360 000 bis 400 000 Taler, 2/5 bis 3/4 davon entfielen auf die Küche, der Rest auf Bier, Kaffee, Selterswasser, Wein, Liqueure usw. 40 bis 42 Personen waren täglich in Küche, Keller und den Restaurationsräumen tätig. Allein 3 Bäckermeister arbeiteten für diesen großen Betrieb und lieferten in einem Jahr für bis zu 23 000 Mark Brot und Semmeln.

Die ersten Fernsprechautomaten gehen mit dem 1. Juni in Betrieb. Zunächst sind 34 Stück von den Apparaten aufgestellt worden, die sich durch ein gefälliges Äußeres auszeichnen. Eine praktische Neuheit ist die auf dem Gehäuse befindliche, für Notizen bestimmte abwischbare Schreibtafel. Gegen die unartige Angewohnheit der Automaten, wohl Geld zu nehmen, eine Gegenleistung jedoch zu verweigern, soll eine Aufforderung helfen: "Nicht eher zahlen, bis das Amt ruft!" Innerhalb des Fernsprechamts I ist je ein Apparat im Postamt 12 (Zimmerstraße) und 66 (Mauerstraße).

Zum Kasseler Preislied "Der Reiter und sein Lieb" von Edwin Schultz, das der Berliner Lokal-Anzeiger abdrucken durfte, teilt das Blatt mit, dass eine wahre Sturmflut von Gesuchen von hiesigen und auswärtigen Zeitungen eingetroffen sei, die das Lied ebenfalls veröffentlichen wollen. Der Verlag Bote u. Bock verweigert eine Genehmigung dazu jedoch prinzipiell. Der Lokal-Anzeiger weist weiterhin darauf hin, dass das Ausschreiben der Stimmen aus der von ihm abgedruckten Partitur durch das Urhebergesetz verboten ist.

Der elektrische Straßenbahnverkehr und seine ständige Steigerung veranlasst die Berliner Elektricitätswerke, beim Magistrat die Benutzung der neuen Unterstationen außer für Licht und Kraft auch zur Stromlieferung für die elektrischen Straßenbahnen zu beantragen. Wird das genehmigt würden, außer den drei Hauptzentralen noch etwa drei an der Peripherie liegende große Umformerstationen den Betriebsstrom für die Straßenbahnen liefern.

Die Kunsthalle berichtet von einer Stellungnahme des Kaisers zur modernen Kunst. Bei einem Besuch Wilhelm II. vor einiger Zeit in der Nationalgalerie sprach er sich nach diesem Bericht gegen die von Director von Tschudi getroffenen Veränderungen aus. Zur Aufnahme einer Reihe französischer Bilder soll er sich auf das Allerschärftste geäußert haben: "Es ist hierbei zu einer Redewendung aus Kaiserlichem Munde gekommen, die dem Herrn Director die Frage des Rücktritts wohl nahelegte. Auch bei dem darauf folgenden Besuch des Kunstgewerbemuseums nahm der Kaiser nochmals Veranlassung, dem Herrn Unterrichtsminister seinen abweichenden Standpunkt gegenüber dem in der Nationalgalerie zur Zeit noch herrschenden System des Herrn von Tschudi zu präcisiren."

Hiesige humanitäre Vereine geben eine Erklärung an die Öffentlichkeit: "Die im Eigenthum und Verlag des Herrn Ludwig Barth zu Berlin erscheinende Zeitschrift Das gute Herz nennt sich ein Organ der unterzeichneten Vereine. Wir erklären dem gegenüber, daß wir eine Ermächtigung hierzu nicht erteilt haben und dieses Blatt als unser Organ nicht anerkennen. Der freiwillige Erziehungsbeirath für schulentlassene Waisen. Landgerichtsdirector Dr. Felisch, Vorsitzender. Der Vorstand des Vereins zur Besserung der Strafgefangenen, Wirkl. Geh. Ober-Justizrath Dr. Starke, Vorsitzender. Der Verein Wöchnerinnenheim, E. Gräfin Posadowsky, Vorsitzende, Stadtrath Dr. Münsterberg, Schriftführer."

Die sogenannten Kinderpostkarten behandelt eine Verfügung der Ober-Postdirection. Danach sind Karten von 6 bis 8 cm Länge und 4 bis 5 cm Breite, wie sie in letzter Zeit verschiedentlich bei den Postanstalten als Postkarten oder Drucksachen ausgeliefert wurden, den Bestimmungen der Postordnung entsprechend als Briefe zu behandeln. Drucksachen, also offene Karten dieser Art dagegen sind von der Beförderung auszuschließen.

Falko Hennig

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