Ausgabe 23 - 1998berliner stadtzeitung
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Berlin im Minus

Die umwelt- und entwicklungspolitische Bilanz fällt negativ aus

Die Stadt Berlin befindet sich nach wie vor nicht auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad. So lautet das Fazit der umwelt- und entwicklungspolitischen Bilanz Berlins, die die Gruppe "Berlin 21" in den vergangenen zwei Jahren erarbeitet und nun als Buch veröffentlicht hat. "Berlin 21" ist ein Netzwerk von 50 unabhängigen Organisationen, die zusammen die Frage erörtern, ob Berlin seiner umwelt- und entwicklungspolitischen Verantwortung gerecht wird. In den Bereichen Wohnen, Verkehr, Energie, Konsum Ernährung, Migration und Entwicklungspolitik wurde untersucht, ob die Berliner Politik und das Verhalten der Berliner Bevölkerung der Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen.

Grundlage der Arbeit war die von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 beschlossene Agenda 21, einem Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert. Leitbild der Agenda 21 ist die nachhaltige Entwicklung: Es soll weltweit nicht mehr auf Kosten künftiger Generationen gewirtschaftet werden. Alles Handeln soll zukunftsfähig sein, das heißt umweltverträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich tragfähig.

Der Auftrag zur Umsetzung der Agenda 21 wurde nach dem Motto "Global denken - lokal handeln" den Städten und Gemeinden übergeben. In jeder Kommune soll eine Lokale Agenda 21 erarbeitet werden, ein Konzept für die Umsetzng der nachhaltigen Entwicklung vor Ort. Der Berliner Senat reichte die Aufgabe gleich weiter an die Bezirke. Dort fanden sich jedoch anfangs nur zögerlich interessierte Bürger, die sich der Problematik stellten und - meist in ihrer Freizeit und unbezahlt - in den Bezirken tätig wurden. Von der Öffentlichkeit wurde deren Arbeit kaum wahrgenommen, doch mittlerweile haben sich in allen Bezirken Lokale Agendagruppen gebildet, die zum Teil schon beachtliche Ergebnisse vorweisen können.

Es wurde aber auch deutlich, daß die Handlungsmöglichkeiten auf Bezirksebene sehr eingeschränkt sind, weil die politischen Rahmenbedingungen zum großen Teil vom Senat bestimmt werden. Daher wird schon seit langer Zeit ein gesamtberliner Agendaprozeß gefordert. Doch auch wenn "Nachhaltigkeit" zeitweise das Lieblingsschlagwort des Stadtentwicklungs- und Umweltschutzsenators Peter Strieder war, gibt es immer noch keinen Abgeordnetenhausbeschluß für eine gesamtstädtische Agenda 21 - damit bleibt es weiterhin bei Strieders unverbindlichen Absichtserklärungen.

Globale Dimension mitdenken

Mit ihrer umwelt- und entwicklungspolitischen Bilanz will "Berlin 21" die Forderung nach einer gesamtberliner Agenda unterstreichen. Es werden positive Ansätze und Defizite aufgezeigt sowie konkrete Forderungen an die Berliner Politik gestellt. Auch wenn sich die Umweltsituation in Deutschland und in Europa entspannt, gibt es immer noch großen Handlungsbedarf, denn die weltweite Entwicklung verläuft entgegengesetzt. Die Wirtschaftsweise der Industrieländer verursacht in den Entwicklungsländern Schäden, die zum Teil katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Menschen haben. Bei der Vorstellung der Bilanz forderte Professor Kreibich vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung deshalb, die globale Dimension des lokalen Handelns immer im Auge zu behalten. Umwelt- und Entwicklungspolitik lassen sich nicht voneinander trennen.

Die Globalität des Problems wird uns täglich im Supermarkt vorgeführt. Orangensaft aus Brasilien ist nur deshalb nicht teurer als Apfelsaft aus Brandenburg, weil die Transportkosten indirekt heruntersubventioniert werden und weil der Anbau der Orangen schlicht auf der Ausbeutung der Arbeiter und des Bodens beruht. Die ökologischen Kosten des Orangensafts und anderer Produkte werden also auf die Produzenten in den Entwicklungsländern abgewälzt.

Beispiel Bauschutt

Bauschutt macht ungefähr die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens aus und übertrifft den Anteil des Hausmülls um ein Vielfaches. Bei den Bauabfällen handelt es sich meistens um ein Gemisch verschiedenster Materialien, das teilweise mit gefährlichen Schadstoffen vermengt ist. Die Gesetzeslücken bei der Behandlung von Bauabfällen lassen die Bemühungen der Bevölkerung um eine korrekte Trennung ihres Hausmülls nahezu lächerlich erscheinen.

Doch anstatt Baumaterialien aus Abrissen wiederzuverwenden oder überhaupt wiederverwertbare Bauteile zu entwickeln, wird bei Neubauten immer noch Material benutzt, das nach seiner Nutzungsdauer nicht problemlos entsorgt werden kann, zum Beispiel Kunststoffenster, Dämmstoffe, Kabelisolierungen oder Holzschutzmittel. Das Problem des Recyclings solcher Stoffe wird auf kommende Generationen verschoben. Die momentane Abrißwut in Berlin wirkt dabei noch verschärfend: Die Lebensdauer von Gebäuden nimmt weiter ab.

Beispiel Verkehr

Die wohl größten Defizite Berlins liegen im Bereich Verkehr. Entgegen der Absichtserklärung, in der Innenstadt den Personenverkehr zu 80 Prozent mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abzuwickeln, steuert die Senatsverkehrsverwaltung einen Kurs, der den Autoverkehr nicht einschränken will sowie Busse und Bahnen immer unattraktiver macht. Der 17prozentige Rückgang der Fahrgastzahlen bei BVG und S-Bahn zwischen 1993 und 1997 spricht Bände.

Die Folgen des steigenden Autoverkehrs haben überwiegend diejenigen zu tragen, die sie nicht verursachen: Die Anwohner an Hauptverkehrsstraßen haben unter den Abgas- und Lärmbelastungen zu leiden und mit den Auswirkungen der durch den CO2-Ausstoß verursachten Klimaveränderungen müssen zuerst die Bewohner hochwassergefährdeter Länder wie Bangladesh klarkommen. Das Streben der Bevölkerung der Entwicklungsländer nach Motorisierung als Zeichen von Wohlstand macht den Handlungsbedarf in den Industrieländern deutlich: Wie soll man der "Dritten Welt" glaubhaft umweltbewußtes Handeln anraten, wenn man selbst nicht bereit ist, das eigene Verhalten zu ändern?

Jens Sethmann

Berlin 21 - Umwelt- und entwick-lungspolitische Bilanz, FDCL-Verlag, Berlin 1998, 288 Seiten, 21 DM

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