Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
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"Noch betteln Sie freiwillig!"

Bei der Obdachlosenzeitung STRASSENFEGER kann ein "Betteldiplom" absolviert werden

Der Sommer ist normalerweise eine schlechte Zeit für eine Obdachlosenzeitung. Der Mitleidsbonus, der manche Zeitgenossen zum Erwerb der Zeitung motiviert, ist deutlich schwächer ausgeprägt als im Winter. In den Medien sind soziale Themen meistens weit weniger präsent: Obdachlosigkeit gilt eben als typisches Weihnachtsthema. Die Berliner Obdachlosenzeitung STRASSENFEGER hat bereits im letzten Jahr die Zeichen der Zeit erkannt und Initiative ergriffen. Eigentlich als Witz auf einer Redaktionssitzung ersonnen, nachdem ein ähnliches, aber erfolgloses Projekt in Amsterdam zur Sprache kam, probierte man einfach mal aus, ob es in Berlin einen Markt für einen "Crash-Kurs Obdachlosigkeit" gibt: 24 Stunden auf der Straße überleben, ohne Geld, Papiere oder Hausschlüssel und nur mit den üblichen fünf Freiexemplaren des STRASSENFEGER, sowie einem sauberen Satz Klamotten aus dem Altkleiderfundus ausgerüstet. Ein erfahrener Straßenverkäufer als Begleitperson wurde zumindest in den ersten Stunden gestellt. Das ganze hatte freilich seinen Preis: 180,- DM fand man angemessen, 90 DM für den Begleiter und 90 DM für "mob e.V.", der die Zeitung herausgibt. In Amsterdam sei man viel zu billig gewesen, deshalb habe keiner das Projekt ernst genommen, so meinten die scharfsinnigen Zeitungsmacher.

Das Konzept ging auf. Die Medien stürzten sich auf das Thema und einige linke Politiker konnte man auch bei ihrer Ehre packen. In den Zeitungen las man spannende Reportagen über die Erfahrungen der Redakteure im Selbstversuch - und vierzehn Tage später im STRASSENFEGER den Bericht der Begleitperson aus der Obdachlosenszene. Zwei Welten trafen da aufeinander. Die Journalisten und Politiker mußten lernen, daß es nicht ganz so einfach ist, wildfremden Leute in der U-Bahn eine Obdachlosenzeitung anzubieten, daß man in der S-Bahn vor den Leuten des BOSS-Sicherheitsdienst aufpassen muß, weil die einem gleich einen Platzverweis erteilen und manchmal auch rabiat werden. In welcher Wärmestube es wann etwas zu essen gibt, erfuhren sie von ihrem Begleiter. Problematisch war weiterhin die Nacht: die meisten Notübernachtungsstellen schließen nämlich bereits im April. Und generell braucht man einen "Läuseschein", um hier zu übernachten - eine amtliche Bescheinigung, daß man keine Läuse hat. Die Begleiter berichteten dagegen amüsiert von der Unbedarftheit der Etablierten, sich in der Welt der Straße zurechtzufinden. Manchmal klang aber auch so etwas wie Hochachtung durch: etwa wenn tatsächlich Abgeordnete die ganze Nacht in der Notunterkunft des Straßenfegers verbrachten und dabei sogar richtig interessant waren. Gelernt haben also beide Seiten.

Was liegt also näher, als die erfolgreiche Aktion in diesem Jahr zu wiederholen? Diesmal jedoch hat STRASSENFEGER seine Aktion erweitert und ruft auf zum "Betteldiplom". "Wir denken, daß Betteln eine Arbeit wie jede andere auch ist", so heißt es in dem Aufruf in der Zeitung, "eine zielgerichtete Tätigkeit, die auf den Lebensunterhalt ausgerichtet ist. Nur sollte sie eben - gerade in den Zeiten der Rezession - professionell betrieben werden. Die fundierte Ausbildung dauert einen Tag und will den Teilnehmern die Möglichkeit geben, sich beruflich selbständig zu machen." Es werden drei Pflichtfächer verlangt. "Sitzung halten": mindestens eine Stunde lang in der Stadtmitte im Sitzen zu betteln, ohne Passanten zu belästigen ("Hunde und etwaige körperliche Gebrechen sind selbst zu stellen"), "Kirchenstich": einen Pfarrer aufsuchen und möglichst viel aus der Handkasse erbitten, die ihm meist von seiner Gemeinde für solche Zwecke zur Verfügung gestellt wird ("Gleichzeitig muß aber dem Geistlichen die Genugtuung gegeben werden, etwas für sein Seelenheil zu tun."), und natürlich "STRASSENFEGER verkaufen".

Wie bei einem staatlich anerkannten Diplom muß man auch eines von drei Wahlfächern belegen. "Schmale machen": Bürger auf zentralen Plätzen gezielt um Geld ansprechen ("Bitte stellen Sie zur Sicherheit Ihr Handy ab."), "Einkaufswagen schnorren": auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt für die Mark im Einkaufswagen betteln ("Ein glückliches Gesicht ist geschäftsschädigend"), und "Containern": In Abfalltonnen nach Nahrhaftem und Pfandflaschen suchen. Das ganze kostet wieder 180 DM, wobei die Hälfte an den obdachlosen Dozenten geht. "Eine Investition in die Zukunft, denn noch betteln Sie freiwillig", so heißt es in dem Aufruf.

Die Resonanz ist jetzt schon riesig. ORB und ZDF haben sich angekündigt, Franziska Eichstätt-Bohlig, Bundestagsabgeordnete der Grünen, will mitmachen und Freke Over, Landtagsabgeordneter der PDS. Wahrscheinlich werden wir bald in den Zeitungen wieder Reportagen lesen dürfen, spannend zu werden versprechen aber vor allem die Berichte der Dozenten im STRASSENFEGER.

Christof Schaffelder

Kontakt: Strassenfeger, Kopernikusstr.2, fon 2901959<

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  Ausgabe 09 - 1998