Ausgabe 08 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Meine letzte Hose für Landowsky!

Mit Bangigkeit betaste ich den Gesäßboden meiner letzten Hose. Um einen schmalen Steg haben sich zwei ständig längerwerdende Risse gebildet. Auch an den Füßen wird sie zusehends ausgefranster. Während ich meine zweitausend Bücher in die dreißig Bananenkartons verpacke, um die Rosenthaler Vorstadt möglicherweise für immer zu verlassen, werfe ich ab und an einen Blick auf jene mittlerweile aschfahl gewordene Hose, die über der Stuhllehne hängt. Ich bin einer von denen, die in Fetzen herumgehen, anders kann man es nicht nennen. Zerlumpt zieht man die Blicke der ehrbaren Leute auf sich, so als hätte man den Aussatz. Man wird gemessen und beschnuppert, auf eine unsichtbare Waage gelegt und für ein moralisches Fliegengewicht befunden. Rasch wandert der Blick des dich voyeuristisch anstarrenden Passanten zu deinen ausgebeulten Schuhen hinunter, als läge in ihnen deine wahrhafte Physiognomie. Nicht wer du bist, ist die Frage, sondern wie wenig du zu haben scheinst und was du vorstellst. Mit Armut wird immer noch archaisch umgegangen - wie wenn ein irrationales Opfergeschehen in Gang gesetzt wäre.

Nichts hat sich in puncto öffentlicher Wahrnehmung von Armut seit Knut Hamsuns Tagen geändert. "Ich trat wieder vom Fenster weg, ging zum Stuhl, auf dem das Waschwasser stand, und sprengte ein bißchen Wasser auf meine blanken Hosenknie, um sie zu schwärzen und sie ein wenig neuer aussehen zu machen", heißt es in seinem 1890 erschienenen Buch "Hunger". Ich habe soeben zufällig nach diesem Buch gegriffen und werde - alltagsmysteriös genug - auf meine erbärmliche Hose zurückverwiesen. Wenigstens bin ich mit einem gewissen Reststolz imstande, unzählige Fußnoten aus der Weltliteratur zum Thema Armut wie Schlüsselanhänger an meine letzte Hose zu hängen, daß es sichtbar glänzt und hörbar klirrt.

Doch dieses Glänzen und Klirren dringt sicher nicht zu den eingesperrten Sinnen des Herrn Landowsky (CDU), dem die "Vagabundierenden" ein Dorn im Auge sind und der das sogenannte "Hygienisch-Problematische", worunter sicher auch meine abgerissene Künstlerhose fallen mag, "rigoros bekämpfen" möchte. Dieses Glänzen und Klirren dringt vielmehr schon zu den Sinnen des Herrn Landowsky, jedoch wie zu den Sinnen des entsprechend konditionierten Pawlowschen Hundes. Daß in den Hüllen der Armut ein komplizierter psychischer Transmutationsprozeß, ein Mysterium der Nerven sich ereignen könnte, entgeht jenem oberflächlichen Menschen-Aussortierer, der dem bürgerlich-trivialen Motto "Kleider machen Leute" erlegen ist.

Am Eingang zum Berliner Monbijou-Park steht zum Beispiel die Büste des Schriftstellers Adelbert von Chamisso (1781-1838). "Irr an mir selber, ohne Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt verbrachte ich in Berlin die düstere Zeit", bekannte er später. Die äußere Erscheinung dieses vagabundierenden Deutschfranzosen schreckte ab. Er unternahm weite Exkursionen in die Umgebung Berlins zur Erforschung der märkischen Flora. "Eine alte, schwarze Kurtka und eine nicht minder alte, etwas verschossene und fleckige Sommerkleidung, bestehend aus runder Jacke und langen Beinkleidern aus demselben olivengrünen Zeuge, eine schwarze Mütze von Samt oder Tuch auf dem lockigen Haupte, eine mächtige grüne Kapsel an ledernem Riemen umgehängt, eine kurze Pfeife im Munde, ein schmuckloser Tabaksbeutel irgendwo angehängt, einige Lebensmittel aus den kleinen Seitentaschen der Jacke hervorschielend, das war der Aufzug, in welchem er auszog, und abends durch Schweiß und Staub nicht verschönert, oft noch ein kräutergefülltes Taschentuch in der Hand, den geputzten Scharen der Berliner Sonntagswelt entgegentrat und uns gutmütig neckte, wenn wir nicht mit ihm den geraden Weg durch die Stadt ziehen wollten ..." Derart war also der junge, nein, der damals schon nicht mehr so junge Herr von Chamisso in Berlin unterwegs. Wenig später zählte er zu den Berühmtheiten der Stadt.

Peter Hodina

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